Um nicht ich zu sein

Eine Nacht lang haben sie geredet und getrunken: Oskar Werner und Michael Degen. Der Jüngere fand seine Ansichten durch den Älteren bestätigt. Jetzt hat Michael Degen ein Buch daraus gemacht: „Der traurige Prinz“ – Dokument einer tragikomischen Begegnung.

Es gibt viele Bücher über den Wiener Schauspieler Oskar Werner und viele, beinah unzählige Essays und Artikel und Glossen, die ihn als Gesamtkunstwerk beschreiben oder Teile des wahnhaften Lebens eines getriebenen Genies darstellen. Man weiß also viel über ihn – sofern man ihn noch kennt, ihn noch einzuordnen weiß: Denn so strahlend seine Größe am Firmament der Schauspielkunst auch war, so sehr er als Nachfolger von Moissi und Kainz und Krauß die bisherigen Traditionen der Regie umgestürzt und zugleich mit seinem Ende auch wieder beendet hat, so wenig ist Oskar Werner der heutigen Jugend ein Begriff oder gar ein Idol oder jemand Remarkabler.

Aber es gibt sie noch, die Bewunderer. Der großartige Schauspieler Michael Degen ist einer, der den Noch-nicht-Greis Oskar Werner kurz vor dem endgültigen Verfall im Fernet- und Grüner-Veltliner-Rausch getroffen und mit ihm eine ganze Nacht im Gespräch verbracht hat. Darüber hat Degen nunmehr ein Schriftstück verfasst, das er „Roman einer wahren Begegnung“ nennt.

Oskar Werner redet viel in diesem Buch. Michael Degen redet viel in diesem Buch. Und zwischendurch schon meint man, der Roman sollte eigentlich „Michel Degens Ansichten über das Theater aus dem Munde Oskar Werners anhand des Beispiels Werner Krauß“ heißen. Denn Werners Verhalten in dieser alkoholschwangeren Nacht wird sehr präzise und klar dargestellt: die Gesprächsführung zwischen Aufbrausen und trunken-kindlichem Lallen, zwischen Wüten und sanftem Genuschel, zwischen Aggression und Verstehen.

Der missglückte Suizid seiner Mutter wird für Werner zum lebenslangen Trauma, unter dem er leidet, das ihn anstachelt (auch und vor allem, weil es nur beim Versuch geblieben ist und nicht vollbracht wurde): „Meiner Mutter jedenfalls blieb der Freitod wegen ihrer Ungeschicklichkeit versagt – während ich ganz gut dabei bin, mich auf eine liebevolle Weise zu entleiben“, meinte er über seinen unkontrollierten und unkontrollierbaren Alkoholgenuss. Ein Paradies nach dem Tod, eine tröstliche Ewigkeit? „Nein, nein. Ich bleibe beim Nichts, das mich im Tod erwartet. Tut nicht weh, macht keinen Kummer und bedeutet für uns die absolute Auslöschung.“

Das sind recht eindrucksvolle Passagen in Degens Roman. Viele, viele bekannte und auch unbekanntere Anekdoten aus der Theater- und Schauspielerwelt strecken den Fortlauf der Erzählung – über Künstler, die heutzutage unter- oder vergangen sind, die Schwierigkeit, der „Alkoholkrankheit“ zu entkommen, wird mit Erfolg und Misserfolg, mit Freude und Trauer, mit Verlockungen durch andere Größen (vor allem Werner Krauß), mit Naziterror und Judenverfolgung, mit Verhaltensunterschieden zwischen Hollywood und Wien erklärt und begründet. Degen schreibt gegen Schluss des Buches, er hätte Werner, als dieser räsonierte: „Ich bin nicht der Künstler geworden, der ich gern geworden wäre“, gern darauf entgegnet: „Du warst es! Du hast es nur nicht bis zur Vollendung bringen können. Deine hemmungslose Alkoholsucht hat dir mit den Jahren all deine künstlerische Würde geraubt.“

Michael Degen sieht sein Leben und seine Karriere, auch seine Ansichten durch Oskar Werner bestätigt, ja er sieht sogar – mit kleinen Ausnahmen und Unterschieden –, dass sich sein Bühnenleben und das Werners „wie ein Ei dem anderen“ gleichen. Konsequenterweise wird der Roman über Oskar Werner im Lauf des Buches mehr und mehr ein Roman über Michael Degen. Über seine Erfahrungen mit Regisseuren, über Inszenierungen, über Einstellungen zu Rollen, die auch Werner gespielt hat, über Kollegen. Auch darüber, wie schwer er sich durch den Naziterror rettete (ähnlich dem desertierten Werner), wie schwer es war, sich danach auf deutschen Bühnen durchzusetzen. Auswalzend beschreibt Degen Oskar Werners letzte Bühnenauftritte in Krems, die peinlicher nicht hätten ausfallen können, und Werners letzte Lesung, die nicht stattgefunden hat, weil kein Besucher mehr gekommen ist – kein Besucher zum einstigen Prinzen der Bühnen.

Werner war zeitlebens ein Zerrissener: Sein Geist war zerrissen, sein Denken, sein Fühlen. Er wäre Schauspieler geworden, sagte er einmal, „um nicht ich zu sein“. Man kann nicht umhin, auch eine kleine boshafte Differenzierung zwischen den beiden Theaterheroen festzustellen: Degen spricht in seinem Buch nur selten von „Oskar Werner“, sondern viel lieber über „Oskar Josef Bschließmayer“ (der Geburtsname Werners) aus Gumpendorf. In dieser einen durchsoffenen Nacht erleben wir viel, aber nicht viel Neues aus der Vita des großen Mimen, viel hingegen über Werner Krauß und über Michael Degen und über das Theaterleben im Allgemeinen.

Zum Bedauern des Lesers wiederholen die einzelnen Erzählblöcke sich im Verlauf des Buches (manchmal sogar wortgleich) drei, vier, manche gar fünfmal, was den Seitenumfang zwar erhöht, den Erzählduktus aber minimiert. Freilich: Degens Roman ist ein Werk für Spezialisten, für Kenner und für theaterhistorisch Bewandte. Und als solches hat es seine Berechtigung.

In der zur Rezension vorliegenden Fassung schienen vom Lektorat noch nicht korrigierte oder übersehene Fehler im Verlauf des Textes auf: etliche das/dass-Fehler und oder auch grammatikalische und syntaktische Fauxpas. Etwas, was mittlerweile korrigiert sein wird. Denn dass der Trigeminusnerv plötzlich als „Tregeminus“ aufscheint und der Theaterkarrenzieher Thespis zum „Thesbis“ verlispelt wird, muss auffallen. Zur Erheiterung des Wiener Lesepublikums fand sich in der Urfassung auch ein essbarer „Zwetschgentröster“ im Text. ■


Michael Degen liest am 8.März, 11 Uhr, in den Sträußelsälen des Theaters in der Josefstadt aus seinem Buch über Oskar Werner.

Michael Degen

Der traurige Prinz

Roman einer wahren Begegnung. 256S., geb., €20,50 (Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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