Grande Nation, kaputt

Wie Gewalt entsteht, wie jegliches Mitgefühl verloren geht, das erfährt der Protagonist in Gila Lustigers Roman „Die Schuld der anderen“ an sich selbst. Sein innerer Konflikt spiegelt dabei die großen gesellschaftlichen Pro-bleme – nicht nur Frankreichs. Mit gigantischer Plansequenz.

Gila Lustiger

Die Schuld der anderen

Roman. 496S., geb., €23,70 (Berlin
Verlag, Berlin)

Gila Lustiger hat einen ambitionierten Roman geschrieben. „Die Schuld der anderen“ entwirft ein großes französisches Panorama der Gegenwart. Lustiger, gebürtig aus Frankfurt, lebt nach einem Studium in Jerusalem seit den 1980er-Jahren in Paris. International bekannt geworden ist die Schriftstellerin durch ihren Familienroman „So sind wir“, der mit einem Erinnerungsbild an den Historiker Arno Lustiger, ihren Vater, beginnt.

Mit ihrem neuen Werk nimmt sie sich nicht weniger vor, als die gesellschaftlichen Verhältnisse einer der großen Kulturnationen des alten Europa zu entfilzen. Indem sie ihren Protagonisten Marc Rappaport, einen französischen Intellektuellen und arbeitssüchtigen Journalisten aus Paris, auf die Fährte einer vor 30 Jahren ermordeten Frau ansetzt, verbindet sie sämtliche Lunten, die seit Jahrzehnten, offen oder unsichtbar schwelend, die hochexplosiven gesellschaftlichen Pulverfässer im Land bedrohen und mit unguten Energien aufladen: in der Provinz, im Umkreis der Hauptstadt oder in ihrer distinguierten Mitte.

Die Schnüre braucht sie nicht einmal in der Fiktion zu zünden. Die Wirklichkeit liefert die Gebrauchsanleitung dazu. Gila Lustigers Roman zeugt von einem hohen Grad an Problembewusstsein und einer genauen Kenntnis der seit Langem gärenden Verhältnisse vom Département Pas-de-Calais bis in den Midi. So weiß auch ihr Protagonist, was er tut, wenn er auch nicht immer weiß, ob es richtig ist. „Er konnte seine journalistische Arbeit einfach nicht darauf reduzieren, über einen Jungen zu schreiben, für den es nach Meinung aller keinen anderen Ausweg gegeben hatte, als der Gewalt zu huldigen und den verheerenden Folgen seiner Wahl zu erliegen.“

In Frankreich, dessen genussorientierter Lebensstil einst das geflügelte Wort vom Paradies auf Erden hervorgebracht hat, lebt Gott schon lang nicht mehr. Egal, welche Menschen, ob Muslime, Juden, Christen oder Agnostiker, sie alle scheinen nicht nur von Gott, sondern auch von jenen Werten verlassen, auf die La Grande Nation einst so stolz gewesen sein durfte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es nur noch auf dem Papier. Zwei der Brandherde, die Gila Lustiger ausführlich in diesem klugen, wenn auch mitunter ein wenig überfrachteten Roman beschreibt, Antisemitismus und Islamismus, sind vor kurzer Zeit (wieder einmal) explodiert. Die grausamen Morde geben den scharfsinnigen, schonungslosen und doch einfühlsamen Darstellungen der Autorin recht. Aber ein Roman ist keine Dokumentation, also muss es um etwas anderes, um mehr als den genauen soziopolitischen Blick gehen.

Obwohl der Leser zu Beginn mit einer jungen Prostituierten konfrontiert wird, die in den 1980er-Jahren, also während der Verstaatlichungsepoche von Banken und Großindustrie, von einem Unbekannten brutal vergewaltigt und ermordet wurde, ist „Die Schuld der anderen“ so wenig ein Kriminalroman wie Péter Nádas' „Parallelgeschichten“, die auch mit einer Leiche beginnen. Der mysteriöse Tod der Emilie Thevenin, einer jungen Provinzlerin, die nach Paris kommt, um gegen die Empfehlungen kleingeistiger Berufsberater ein Studium der Geschichte zu beginnen, ist, aber das erkennt der Leser erst spät, Antrieb, Klammer und geheime Verbindung der Handlungsstränge und Personen des Romans. Es ist die Spur, die der Protagonist Marc Rappaport wie ein Jagdhund die Schleppe aufnimmt und die ihn in die faulen Gedärme des schönen alten Europa mit dem neuen, schmutzigen Geld weitertreibt.

Die vielen Gesichter der Melancholie

Rappaport ist nicht nur arbeitssüchtig. Hinter der Sucht verbirgt sich eine Melancholie, die mit dem Abschaum der Tage immer schwerer wird. Und da die Handlung aus seiner Perspektive erzählt wird, bestimmt diese Melancholie, die sich einmal in Hektik, einmal in Wut, ein andermal in sexuellen Akten verdreht, weite Teile des Geschehens. Der Journalist ist nicht nur das Auge, das die Gegenwart der französischen Verhältnisse sieht, der Kopf, der sie analysiert. Er selbst ist in ein Pulverfass hineingeboren.

Seine Mutter stammt aus einer extrem vermögenden, katholischen Familie. Ihr Vater, Arnaud Delorme, zählt zur oberen Kruste der Finanz- und Politwelt. Allerdings ist es kein altes Geld. Delorme hat sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet und sagt von sich selbst, dass es dazu ein bisschen Dreck an den Händen brauche. Rappaports väterliche Seite ist jüdisch. Und intellektuell. Seine Eltern sind Hochschullehrer, seine Mutter hat sich von ihrem Vater distanziert, wenn sie auch den Kontakt nicht abgebrochen hat. Ihr Mann, Marcs Vater, liegt mit Arnaud Delorme im diskursiven Dauerclinch: soziologisch, philosophisch, politisch.

Marc selbst ist das riesige Vermögen seines Großvaters – natürlich – suspekt. Aber er liebt diesen Mann. Der Großvater war immer für ihn da. Er hat ihm alles beigebracht, was man einem Kind beibringen kann, lehrte ihn Ehrlichkeit zu sich selbst, lehrte ihn Leben und Genuss, Selbstvertrauen und den Umgang mit Schmerz. „Leid gehört dazu. Schlimm ist nicht, wenn man Leid, sondern sein Leben erduldet.“ Der Großvater ist der einzige, der Marc und seine Berufswahl respektiert, und nach dessen Unfalltod ist Marc der Einzige, der um ihn zu trauern scheint. Ohne dass der Leser sich zunächst über das Ausmaß dieser Verbindung im Klaren wird, birgt genau diese den Sprengstoff des Romans. Die kleinste Einheit des Geschehens, der Protagonist, verweist mit seinem eigenen inneren Konflikt auf den großen Konflikt des Romangeschehens. Diese Spiegelung (und ihre spätere Splitterung) allein ist nicht nur klug angelegt, sondern spannungsreich, böse wie liebevoll schillernd dargestellt.

Aus dem Konflikt ergeben sich die Fragen des Romans, die auch die Fragen nach dem Leben sind. Nach der eigenen Unabhängigkeit. Nach dem eigenen Verhaltensmuster. Ob der eigene Standpunkt wirklich der eigene ist. Was das Wohl der Gemeinschaft ist, und wer die Gemeinschaft. Schließlich die Frage nach der Entstehung der Gewalt und dem Verlust jeglichen Mitgefühls. Die Fragen nach Moral, Empathie, Selbstverständnis, Verantwortung des Individuums münden in der Frage, worauf ein gutes Leben gründet. All das erfährt Marc in sich und an sich selbst, während er zunächst glaubt, die Spur eines einzelnen Täters zu verfolgen und sich inmitten eines riesigen, kaum zu entwirrenden Rätsels wiederfindet, das alle sozialen Ebenen der Gesellschaft einbezieht.

Es sei nur so viel verraten, dass Marc Rappaport das Rätsel tatsächlich aufklärt. Und die Figur, an der die Aufklärung sich als das letzte aller explosiven Fässer im Roman entzündet, ist er selbst. Das ist mehr als ein Kunstgriff. Denn auch wenn das Rätsel aufgeklärt wird, wird der Konflikt nicht gelöst. Die klaffende Differenz führt aus dem Roman in das gegenwärtige Weltgeschehen. Denn Frankreich – auch wenn manche Stimmen behaupten, dass die Probleme dort extrem und die Reaktionen auf die Probleme nicht angemessen sind – ist als europäisches Land kein Einzelphänomen. Islamismus, Antisemitismus, an den Rand gedrängte Jugendliche ohne Arbeit, ohne Perspektive, ohne Ausbildung gibt es überall in Europa. Gewiss gibt es dort Besonderheiten, wie die sozialistischen Scheinmaßnahmen der Verstaatlichung in den 1980er-Jahren, die allesamt fehlgeschlagen sind. Aber die Grundproblematik ist in vielen Ländern ähnlich.

Der Roman spricht von Radikalisierungen junger Muslime, die gesellschaftlich so ausgeschlossen, so vergessen, so missachtet sind, dass sie sich nur noch durch bestialische Gewaltakte selbst spüren, wahrnehmen, ausdrücken können. Er erzählt von sich absentierenden Intellektuellen, die den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben und in ideologischen Fantasien leben. Er erzählt von gedemütigten Kleinbürgern, die aus Angst um ihre wirtschaftliche Existenz ihre physische Existenz aufs Spiel setzen, und er erzählt von einem lebensklugen, verständnisvollen, verlässlichen, verantwortungsbewussten Mann, der vom moralischen Morast profitiert, während er der Einzige zu sein scheint, der weder melancholisch noch lebensfern noch emotional eingefroren ist.

Besonders bemerkenswert an dieser gigantischen Plansequenz, die Gila Lustiger vor uns in Szene setzt, ist aber die schreckliche Erkenntnis, dass – und auch hier steht Frankreich als Beispiel für Europa – die alte, ehrwürdige Wiege der Zivilisation so korrupt,so heruntergekommen, so menschenunwürdig, so fahrlässig, so habgierig wie irgendein Land auf der Welt dasteht, das vom Westen für seine Empathielosigkeit, Habgier oder Menschenverachtung an den Pranger gestellt wird.

Und ein Weiteres wird klar, während der Leser Rappaports Recherchen folgt: Die Länder der Welt sind längst voneinander durchdrungen, und das nicht nur in Fragen der Terrorzellen, sondern im Alltag, in den Sprachen, im Handel, der wirtschaftlichen, finanziellen, kulturellen Abhängigkeit. Es gibt sie nicht mehr, die unabhängige Nation, nicht einmal mehr in der hintersten französischen Provinz, denn die großen Arbeitgeber eines Landes, im Roman ein Chemiekonzern mit zweifelhaften Herstellungspraktiken, gehören inzwischen einem anderen Land – hier China. Die gegenseitige Durchdringung macht Marc Rappaport klar, das nicht mehr funktionieren kann, was sein kindliches Weltbild einmal war und wofür vor allem seine intellektuellen Eltern stehen: „Damals war er in dem Glauben aufgewachsen, dass jeder sein Lager zu wählen hätte. Rechts oder links. Arm oder reich. Schwarz oder weiß.“

Vom Betäuben der Gewissenszweifel

Marc Rappaport ist sich nicht sicher, was er an die Stelle dieses Weltbilds setzen kann, und mitunter hat es den Anschein, dass das der Grund ist, warum er nicht erwachsen werden will oder kann – was immer das bedeuten würde. Vielleicht unter anderem, zu der Liebe zu seiner jüdischen Freundin, Deborah, zu stehen, für deren scharfen, klaren Witz der Leser in all dem Filz mehr als dankbar ist: „24 Stunden ohne deine tote Nutte, geht das?“, fragt sie den Geliebten, der wieder einmal dem Recherchewahn verfallen ist und damit die eigenen Gewissenszweifel betäubt.

Ein bisschen mehr Deborah, ein bisschen präsentere, sinnlichere Figuren hätten dem Roman mit seinen großen, intelligenten, sensiblen Fragen, seinen detailliert geschilderten Milieus, seinem soliden Recherchefundament gutgetan. Die meisten Personen hingegen bleiben blass und werden von der dramatischen Konstruktion überformt. Das tut der Spannung keinerlei Abbruch, dafür bürgt die analytisch erzählte Handlung und der groß angelegte Erzählgestus, lässt das Geschehen aber mitunter etwas schematisch wirken. Gerade da der Roman auch für jene sprechen will, die sonst keine Stimme haben, hätte man diese als Stimmen konkreter Charaktere gern mit etwas mehr Eigenleben gehört.

Sehr zum Ende der Erzählung heißt es einmal über das, was hier mit Sachkenntnis und Akribie auseinandergelegt wird: „Dieses Trauerspiel kannte keine tragischen Helden, sondern nur Konstellationen.“ Was für die erzählte Geschichte gilt, gilt auch für den Roman. Es ist gleichzeitig wahr und dieSchwäche dieses großartig konzipierten Buches. Man sollte es nicht versäumen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2015)

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