Worüber man nicht schweigen kann

Die Journalistinnen Stefanie Schramm und Claudia Wüsten-hagen haben eine Menge Material zusammengetragen, das die Korrelation zwischen Sprache, Denken und Fühlen erforscht: „Das Alphabet des Denkens“ – eine reichhaltige Übersicht.

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, heißt es in Wittgensteins „Tractatus“. Nach den jüngsten Erkenntnissen der Kognitionsforscher hat der Philosoph damit eher nicht recht. Dass die Sprache einen wesentlichen Beitrag zu unserer Welterfassung leistet, ist unbestritten, aber wir können auch außersprachlich denken. Das konnte mithilfe von Experimenten festgestellt werden, die am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie mit Kleinkindern gemacht worden sind. Dabei wurde getestet, inwieweit diese Kinder, die noch keine Nebensätze bilden und somit nicht sprachlich denken konnten, sich in die Gedanken eines Erwachsenen hineinversetzen können. Den Forschern zeigte sich, dass die Kleinkinder durchaus imstande waren, Vermutungen darüber anzustellen, was ein anderer Mensch – ganz ohne Worte – denkt.

Die Versuchsanordnung dieses und vieler anderer Experimente kann man in dem reichhaltigen Band „Das Alphabet des Denkens“ von Stefanie Schramm und Claudia Wüstenhagen nachlesen. Die beiden Journalistinnen haben eine Menge Material zusammengetragen, um zu erläutern, „wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt“ – oder eben nicht. Denn ein Ergebnis ihrer Recherchen ist, dass grundlegende Denkvorgänge wie etwa die Bildung von Konzepten, das logische Schlussfolgern und – wie obiges Beispiel zeigt – die Empathiefähigkeit nicht von Sprache abhängig sind.

Auf der anderen Seite warnen die beiden Spracharbeiterinnen jedoch vor der Macht der Metaphern. Ein Kapitel listet penibel auf, „wie Metaphern einen Kosmos von Assoziationen wecken“ und unterschiedliche Reaktionen erzeugen. Das ist alles andere denn eine neue Erkenntnis – Politik und PR leben seit je davon –, aber die angeführten Beispiele machen doch erschreckend deutlich, wie manipulierbar wir durch Sprache sind.

So wurden etwa Probanden zwei Texte über den Anstieg des Verbrechens in der fiktiven Stadt Addison vorgelegt. Im einen Fall hat es geheißen, dass „das Verbrechen eine Bestie ist“, im anderen, dass es ein Virus sei. Der Rest der Meldung blieb gleich. Die Testpersonen, die den Text mit der Bestie gelesen hatten, plädierten zu 71 Prozent für härtere Strafen. Die Gruppe, die vom Virus gelesen hatte, empfahl dies nur zu 54 Prozent. 46Prozent dieser Gruppe schlugen vor, die Gründe für die steigende Kriminalität zu untersuchen. In der Bestien-Gruppe waren das nur 29 Prozent. Das ist auch als eindringliche Mahnung an den Journalismus zu lesen.

Die Ansicht darüber, wie Metaphern überhaupt entstehen, trennt Linguisten. Sie sind sich uneins darüber, ob die Denkleistung der Verknüpfung von konkreter und abstrakter Bedeutung angeboren oder erlernt sei. Die Auseinandersetzung eher noch befeuert haben in jüngster Zeit die Kognitionsforscher, die meinen, Körper, Sprache und Kultur spielten eine Rolle.

Eine spezielle Form von Metaphern sind Schimpfwörter. Tests mit Migranten haben gezeigt, dass Schimpfwörter in der Muttersprache weit wirkungsvoller als in der nachträglich erlernten Sprache sind. Ein deutsches „Verpiss dich!“ löst bei einem Deutschtürken bei Weitem nicht die Emotion wie ein „Siktir git!“ aus. Das gilt sowohl für denjenigen, gegen den die Aufforderung sich richtet, als auch für jenen, der sie ausspricht. Denn wie die Psychologen Timothy Jay und Richard Stephens unabhängig voneinander in Tests erhoben haben, verursachen Kraftausdrücke auch Effekte bei demjenigen, der sie ausspricht. Sie können zum Beispiel Schmerzen lindern oder die Leistungsfähigkeit erhöhen.

Schimpfen im Wandel der Zeiten

Wie Sprache überhaupt unterliegt natürlich auch das Schimpfen dem Wandel der Zeiten: „Fellator“ war etwa eine schlimme Beleidigung für einen römischen Mann, bezeichnete es doch eine passive Rolle beim Oralsex. Für den Römer kam es aber darauf an, seinen Sexualpartner zu penetrieren, und nicht, ob dieser männlichen oder weiblichen Geschlechts war. Den mittelalterlichen Menschen wiederum kümmerten obszöne Wörter kaum, gab es im Volk doch so gut wie keine Privatsphäre. Er ließ sich deshalb von Wörtern aus dem ständig sichtbaren Sexual- oder Fäkalbereich wenig schockieren, vielmehr durch das Schwören beim Körper Gottes. Das weist auch darauf hin, dass Wörter insgesamt etwas Magisches haben. Sie besitzen eine Macht, die über ihre wörtliche Bedeutung hinausgeht, insbesondere auch für jene, die sie aussprechen.

Auf dieser Fähigkeit zur (Auto-)Suggestion beruhen sämtliche Psychotechniken vom autogenen Training über die Meditation bis zur Hypnose. Welche Rolle der Körper dabei spielt, das versuchte Ende der 1980er-Jahre der Sozialpsychologe Fritz Strack herauszufinden. Er ließ Versuchspersonen mit einem Stift zwischen den Zähnen Comics lesen. In dieser dem Lächeln nachempfundenen Haltung fanden die Probanden die Bilder lustigerals in jener, bei der sie den Stift mit vorgestülpten Lippen halten mussten. Strack entwickelte daraus die Facial-Feedback-Hypothese, die besagt, dass die Mimik nicht nur Ausdruck von Gefühlen ist, sondern auch auf Gefühle zurückwirkt. Diese Hypothese hat im deutschsprachigen Raum der Neurobiologe Joachim Bauer populär gemacht, indem er die Entdeckung der Spiegelneuronen des Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma aufgriff.

Nun sind die Linguistik und angrenzende Disziplinen keine exakten Wissenschaften wie die Mathematik, und ihre Theorien sind deshalb stets umstritten. Die beiden Autorinnen dieses Bandes stellen die unterschiedlichen Ansichten der Forscher zumeist nur dar und nehmen höchstens indirekt Partei, etwa im uralten Zwist über die Entstehung der Sprache.

Für den Vater der modernen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure, war die These von der Ikonizität, also dass Form und Inhalt der Wörter einander bedingen, natürlich Teufelszeug. Kognitionsforscher wie Vilayanur Ramachandran hingegen konnten nachweisen, dass der Klang von Wörtern visuelle Vorstellungen hervorrufen kann. Er zeigte etlichen Personen zwei Figuren, die eine gezackt, die andere mit rundlichen Ausbuchtungen, und fragte sie, welche davon Kiki und welche Bouba hieße? Ergebnis: Eine große Mehrheit entschied sich dafür, dass die wolkige Figur Bouba und die sternförmige Kiki heißen müsse.

Nun haben Untersuchungen zur Sprache ein spezifisches Problem, das anderen Wissenschaften abgeht: Die Sprache ist sowohl Quelle dessen, was erforscht werden soll, als auch Beweismittel. Die Autorinnen halten sich deshalb weitgehend aus den Querelen der Forscher heraus. Das ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches: Es listet eine Menge auch widerstreitender Forschungsergebnisse auf, zieht aber keinerlei eigenständige Schlüsse daraus. Es informiert, aber es bildet nicht. ■

Stefanie Schramm, Claudia Wüstenhagen

Das Alphabet des Denkens

Wie Sprache unsere Gedanken und
Gefühle prägt. 320S., geb., €20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2015)

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