Einen Whisky für Tito!

Die dichten Szenen in der Vater- und Familiengeschichte Miljenko Jergovićs weiten sich ständig zu Mentalitätsdiagnosen, die erklären, warum sich Kroatien so schwertut mit seiner Vergangen- heit. „Vater“: ein Ausnahme-Essay über Persönliches und Staatliches.

Der Titel „Vater“ ist eine maßlose Untertreibung, auch wenn das Buch mit dem Paukenschlag der Nachricht von Vaters Tod beginnt. Eine Untertreibung schon deswegen, weil mit dem Vater die ganze Familiengeschichte ins Bild rückt, und als die Rede auf die Großmutter kommt, formuliert Miljenko Jergović ein wichtiges Prinzip seines Essays: „Wenn ich über sie nachdenke, denke ich immer auch über mich nach.“

Mehrmals denkt der durch wichtige Romane und den Prosaband „Sarajevo Marlboro“ international bekannt gewordene Schriftsteller auch darüber nach, welche fiktionalen Funken er aus seiner Familiengeschichte schlagen könnte, welche Romankerne sie in sich trägt, doch der vorliegende Band greift nur dann zu Fiktionen, wenn der Autor ungelösten Rätseln seiner Herkunftsfamilie auf der Spur ist und mögliche Handlungsverläufe durchspielt, um sich wenigstens vorzustellen, wie es gewesen sein könnte: „Vater ist tot, und so kann ich von ihm nur noch das erfahren, was der literarischen Fantasie entspringt.“

Der Titel „Vater“ ist aber vor allem deswegen eine kalkulierte Untertreibung, weil die dichten Szenen dieser Vater- und Familiengeschichte sich ständig zu Mentalitätsdiagnosen weiten, die erklären, warum das neue EU-Mitglied Kroatien sich so schwertut mit seiner Vergangenheit – mit der jüngsten der Balkankriege und mit der älteren der Ustascha-Bewegung. Auch in der Familie Jergović war der unabhängige Staat Kroatien, der Ustascha-Staat, „eine innerfamiliäre Angelegenheit, nicht nur ein Staat“.

Darüber hinaus hat der Essay noch eine sehr bedenkenswerte Diagnose: Der industriell organisierte Massenmord der deutschen Nazis ermöglichte seinen Tätern mehr persönliche Distanz zum Verbrechen, während „der handwerkliche Charakter der Mordstätten der Ustascha“ zwar weniger monströs wirkt, aber die Täter intimer involviert hat. Auch die Durchschnittsbürger waren näher am Verbrechen dran: „Auschwitz war ein geheimer Ort, während Jasenovac öffentlich war, alle wussten Bescheid.“

Darum, so Miljenko Jergović, ist es für Kroatien bis heute so schwer, die kollektive Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Also konstruierte man Nationalmythen, die die Schuld auf andere schoben: auf die Deutschen, die den Nationalsozialismus nach Kroatien gebracht haben, auf die Engländer, die Lügen über die Verbrechen des Ustascha-Staats verbreiteten, oder die „Kommunisten, Serben, Jugoslawen und diverse Serbophile“, die die Vergangenheit nicht ruhen lassen wollen. Jergović analysiert nicht selbstgerecht-distanziert, sondern zeigt auch die eigene Verwobenheit in diese Geschichte: Obwohl er mit den Opfern der Ustascha sympathisiert, ist es ihm kaum möglich, sie „lebensecht“ aus der Innenperspektive darzustellen, während er jederzeit in die Rolle eines Ustascha-Kämpfers schlüpfen kann, um ihn literarisch darzustellen, denn diese Rolle ist ihm aus der Familiengeschichte vertraut. „Die Ustascha stand in meinem Leben immer diesseits der Türschwelle“, notiert er lapidar. Eine solche Analyse mit offenem Visier tut im heutigen Kroatien offenbar besonders weh: Das Buch löste einen veritablen Skandal aus.

Wie aus Muslimen Kroaten wurden

Besonders präzise in den Details ist Jergović, wenn es um Sarajewo geht, um die Stadt seiner Herkunft. Seine Beschreibung der völligen Neucodierung des Kroatentums in dieser Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg durch Abwanderung kompromittierter Personen und Neuansiedlung anderer Kroaten, aber vor allem der Hinweis auf die kroatische Identität, die die Muslime Sarajewos unter dem Ustascha-Regime angenommen und dann abgelehnt haben, legt die Wurzeln des bis heute Unfassbaren frei, das in dieser Stadt geschehen ist. Das Unbegreifliche: Kroate aus Sarajewo kann man bis heute nur sein, wenn man katholisch ist. Jergović musste sich tatsächlich widerwillig taufen lassen, um zu einem kroatischen Pass zu kommen.

Der Autor ist imstande, mit wenigen Strichen und in einprägsamen Formulierungen Mentalitäten zu skizzieren. Das zeigt sich auch in seiner Beschreibung eines martialisch codierten kroatischen Katholizismus. Und in hellsichtigen Analysen, die weit über Kroatien hinaus zutreffen: „Das moralische Prozedere katholischer Gemeinden gründet auf Gewissensbissen; sie werden seit Jahrhunderten gehegt und gepflegt wie ein englischer Rasen.“ Zudem in seiner Erfahrung: „Ich bin zwischen atheistischen Muslimen aufgewachsen, die kein Schweinefleisch essen“, diagnostiziert er. „Es gibt nur konfessionsgebundene Atheisten, jeder hat seinen Tempel, auch wenn kein Gott darin wohnt.“ Mit dieser Erkenntnis wären vielleicht viele „Religionskonflikte“ leichter zu verstehen.

Jergović räumt auch mit den Mythen von Exjugoslawien und vor allem von Tito und den Partisanen auf. Als Jugendlicher stieß er auf die Tatsache, dass die Partisanen entwaffnete Kriegsgefangene umgebracht haben. Ein literarisches Meisterstück ist, wenn er die Speise- und Getränkenormen Jugoslawiens vorführt: Whisky war allein Tito vorbehalten, selbst Milošević kreidete man seinen Konsum an. Aus genauer Beobachtung, eigenem Erleben und schonungsloser Analyse lebt dieser Ausnahme-Essay, Jergović' bisher persönlichstes Buch, das unverzichtbar ist, wenn man Kroatien verstehen will. Es legt die Antriebskräfte seines Prosaschaffens frei und ist eine Vater-Sohn-Geschichte, wie man sie – trotz zahlreicher Vaterbücher – noch nie zu lesen bekommen hat.

So gesehen ist der Titel doch keine Untertreibung: Die Vaterspur zieht sich durch das ganze Buch; sie geht nicht nur jemandem unter die Haut, der lebenslang auf Vatersuche ist. Ein physisch starker Vater, der den Sohn in den Schwitzkasten nimmt und Antworten auf dessen Fragen verweigert, weil er psychisch zu schwach dafür ist; ein Vater, der selbst von seinem Vater verleugnet wurde und der das schlechte Gewissen gegenüber seinem Sohn in der altruistischen Paraderolle des Arztes auslebt; ein Vater, der den Sohn drei Jahrzehnte lang nicht nach Hause mitnimmt, damit er seine zweite Frau nicht kennenlernt, der aber, alt und dick geworden, im Arztkittel durch den Granatenhagel Sarajewos rennt, um den Sohn zu finden – von diesen Erinnerungen muss der Sohn sich verabschieden und seine Gedanken und Gefühle diesem Buch anvertrauen.

Einem von der renommierten Übersetzerin Brigitte Döbert in seinen so unterschiedlichen Tonlagen meisterhaft ins Deutsche transponierten Buch, das in seiner Aussagekraft wie in seiner literarischen Meisterschaft weit bedeutender ist, als es sein Umfang vermuten lässt. ■


Miljenko Jergović liest am 23.3. um 20 Uhr im Literaturhaus Graz, Elisabethstraße 30, und am 24.3. um 19.30 Uhr im Literaturhaus Salzburg, Strubergasse 23, aus „Vater“.

Miljenko Jergović

Vater

Aus dem Kroatischen von Brigitte
Döbert. 208S., geb., €20,60 (Schöffling Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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