Und fast ein Mensch

Robert Streibel stellt ein für die österreichische Zeitgeschichte eminent sinnträchtiges Ereignis aus vielerlei Perspektiven und fesselnd dar: das Massaker an den Häftlingen der Strafanstalt Stein am Ende des Krieges. „April in Stein“: ein großes Ereignis.

Vor Jahrzehnten stieß ich auf einen Aufsatz, der 1949 oder 1950 in der Wochenzeitung „Stimme der Frau“ erschienen war: Im Rahmen eines Preisausschreibens zum Thema „Mein größtes Erlebnis“ hattesich eine Arbeiterin aus St. Pölten daran erinnert, wie sie Anfang April 1945 von einer Nachbarin gehört habe, dass die Insassen der Strafanstalt Stein – inzwischen ein Ortsteil von Krems – entlassen würden oder schon entlassen worden seien. Sie sei daraufhin Richtung Krems geradelt, voll Freude auf das bevorstehende Wiedersehen mit ihrem Mann, der als Widerstandskämpfer in Stein inhaftiert war. Schon nach wenigen Kilometern habe sie neben der Straße mehrere Leichen liegen gesehen, sei vom Rad gesprungen und zu den Toten gelaufen. Einer sei auf dem Rücken gelegen, und sie habe ihn trotz seiner Kopfwunden sofort erkannt. „Das war mein größtes Erlebnis.“

Durch diesen in seiner Knappheit herzzerreißenden Bericht erfuhr ich zum ersten Mal von den Massakern an Häftlingen, die sich kurz vor Kriegsende in und um Krems zugetragen hatten. Ich wusste damals nicht, dass der Historiker Robert Streibel gerade dabei war, die erste Fassung eines Romans über die Ereignisse zu erstellen, denen insgesamt 386 Menschen zum Opfer fielen. Streibel stammt aus Krems, er ist mit den Erinnerungen seines Vaters aufgewachsen, der als Halbwüchsiger Augenzeuge des Verbrechens geworden war, er hat für seine Dissertation über die Geschichte seiner Heimatstadt zwischen 1938 und 1945 hunderte Interviews geführt, unter anderem mit überlebenden Häftlingen, und wiederholt Aktionen gegen das öffentliche Beschweigen gestartet oder unterstützt. Ein akademisch gebildeter Ruhestörer, souverän, gewitzt und hartnäckig. Nun endlich liegt sein Roman gedruckt vor, pünktlich zum 70. Jahrestag am 6. April, an dem in Krems auch eine Ausstellung über „Stein 1945“ zu sehen sein wird (vom 10. bis 24. April in der Galerie Kultur Mitte, Obere Landstraße 8).

Nicht alle Ermordeten waren Häftlinge; erschossen wurden auch vier Justizwachebeamte, unter ihnen der Anstaltsleiter Franz Kodré. Mitte Februar 1945 waren er und seine Amtskollegen aus den Alpen- und Donaugauen vom Wiener Generalstaatsanwalt Stoll auf die „Richtlinien für die Räumung von Justizvollzugsanstalten im Rahmen der Freimachung bedrohter Reichsgebiete“ hingewiesen worden. Diesen zufolge wären die Häftlinge „bei Feindannäherung“ zu evakuieren, im Fall fehlender Transportmöglichkeiten jedoch zu liquidieren. Auf Nachfragen Kodrés widersprach Stoll sich mehrmals. Schließlich räumte er den Anstaltsleitern die Möglichkeit ein, die „nicht ausgesprochen asozialen und staatsfeindlichen Gefangenen“ rechtzeitig zu entlassen.

Sieben Wochen später hatte sich die militärische Lage verschärft. Die Rote Armee stand an der Wiener Stadtgrenze und stieß weiter westlich in den Raum St. Pölten vor. In der Anstalt Stein waren die Lebensmittelvorräte aufgebraucht. In dieser Situation richtete Kodré eine dringliche Anfrage an die Gauleitung Niederdonau, wie mit den Häftlingen zu verfahren sei, erhielt eine unklare Anordnung und beschloss am 6. April, sie freizulassen.

Einige Dutzend von ihnen hatten die Anstalt bereits verlassen, die meisten standen noch um ihre Zivilkleider und Entlassungspapiere an, als Einheiten der Waffen-SS, des Volkssturms und der Wehrmacht ins Gefängnis eindrangen und mit Handgranaten und Maschinengewehren ein Blutbad anrichteten. Der stellvertretende Anstaltsleiter hatte sie verständigt, dass inStein eine Häftlingsrevolte ausgebrochen sei. Kodréund drei Aufseher wurden noch am selben Tag wegen Feindbegünstigung und Befehlsverweigerung hingerichtet. Diejenigen,die das Zuchthaus schon vor dem Eintreffen der bewaffneten SS-Männer verlassen hatten oder denen es gelungen war, während des Massakers zu flüchten, wurden durch die Gassen und Weingärten der Stadt gehetzt, die meisten erschossen.

Zu Massenerschießungen kam es auch in umliegenden Ortschaften diesseits und jenseits der Donau, in Mautern, Furth-Göttweig, Paudorf, Hörfarth, Theiß und Hadersdorf am Kamp. Die verbliebenen Häftlinge, etwa achthundert, wurden am 8. April auf einen Lastkahn getrieben und nach der Ankunft in Passau auf mehrere Zuchthäuser verteilt. In der bereits geräumten Strafanstalt Stein kam es am 15. April – als Wien schon befreit und die Rote Armee gerade dabei war, St. Pölten einzunehmen – erneut zu einer Massenhinrichtung, von 44 Nazigegnern, die in Wien zum Tode verurteilt und vor den heranrückenden Sowjettruppen hierher verschleppt worden waren.

In einem Volksgerichtsprozess im August 1946 wurden fünf Verantwortliche der Massenmorde zum Tode verurteilt. Fünf weitere Angeklagte erhielten lebenslange Freiheitsstrafen, wurden aber nach wenigen Jahren begnadigt. Zwei von ihnen verübten später Selbstmord, einer davon vor der Mauer der Strafanstalt, neben dem Gedenkstein für die Toten des 6. April 1945, auf dem – wie Streibel betont – nicht unverbindlich von Opfern die Rede ist, sondern davon, dass die SS Gefangene ermordet hat. „Ein blendend heller Scheinwerfer gegen das Vergessen war hier aufgestellt worden.“ Er gilt insbesondere den in Stein inhaftierten griechischen Widerstandskämpfern. Auch von ihnen handelt Streibels Roman, und nicht nur deshalb trifft die Behauptung des Autors: „Lokalgeschichte ist Weltgeschichte“, auch auf ihn selbst zu.

„April in Stein“ ist beispiellos in der neueren österreichischen Literatur, vergleichbar nur den schon vor 50 und mehr Jahren erschienenen Romanen Franz Xaver Fleischhackers („Cattaro“, über den Matrosenaufstand in der k.u.k. Marine 1918) und Karl Wiesingers („Achtunddreißig“, über die Wochen und Tage vor der Annexion Österreichs). Wie diese beiden Schriftsteller stellt Streibel ein kollektives, für die österreichische Zeitgeschichte eminent sinnträchtiges Ereignis aus vielerlei Perspektiven und derart fesselnd dar, dass es schwerfällt, die Lektüre zu unterbrechen.

Dabei enthält er sich jeglicher Wertung, charakterisiert das Verhalten, Fühlen und Denken seiner 14 oder 15 Protagonisten gleichsam von innen heraus, in lakonischen, ihrem Bewusstsein angemessenen Sätzen. Die Genauigkeit, mit der er dies tut, macht einen vor Staunen sprachlos. Fast möchte man glauben, dass Streibel in den Zellen, auf den Gängen, in den Büros und unterirdischen Werkstätten, dann auf der Flucht, auf Heuböden, in Gräben und Kellerlöchern dabeigewesen ist. Dass er Hunger, Hoffnung, Wut, Schmerz, Verzweiflung, Erschöpfung selbst durchgemacht hat.

Er schildert das Gemetzel im Gefängnishof mit Blick auf scheinbar nebensächliche (aber für die Gefangenen lebensentscheidende) Details, rutschende Schuhe, Gurte, Patronenhülsen, dann mit ebenso unerträglicher Präzision die Massenhinrichtung in Hadersdorf. Den Charakter des Gefängnisdirektors Kodré (der bei ihm Kerr heißt) trifft er durch die Beschreibung der Angewohnheit, in Momenten großer Anspannung am Giletknopf zu drehen, und mit zwei kurzen Sätzen: „Der Adolf Kerr verwaltet das Zuchthaus, als würde er Steuerbescheide auszufüllen haben. Emotionen haben da keinen Platz, Hass daher auch nicht, und das ist fast eine Spur Menschlichkeit.“ Er entlarvt eine sensationsgierige Nachbarin, die der Zeit nachtrauert, als es gegen die Juden ging. „Wie sie aus der Synagoge hüpfen mussten und der Bader Juwelier Purzelbäume schlug. Es war schaurig, aber doch auch beruhigend, die Gerechtigkeit walten zu sehen.“

Er beschreibt, wie faustgroße Stücke aus einem zusammengebrochenen, dann notgeschlachteten Pferd geschnitten werden, und was geschieht, wenn jemand dabei aus Versehen den Darm durchtrennt. Wie ein Häftling dem andern, halb Verhungerten ein Stück Brot und eine Zigarette zusteckt, einfach so, und wie der andere das nie vergessen kann. Wie einen dritten Häftling, auch er ein Kommunist (der österreichische antinazistische Widerstand lässt sich ohne ein paar tausend Kommunisten, zehn Geistliche und einen Bibelforscher nicht darstellen) – wie diesen Häftling nur der Zweifel am Leben erhält, ob seine Braut, von der ihn keine Nachricht mehr erreicht, nicht schon längst einen anderen hat. Wie ihr letzter Brief, in dem sie ihm glaubhaft ihre Liebe versichert, ausbleibt. Wie er erschossen wird, ins selbst ausgehobene Massengrab stürzt. Der Tod wäre ihm nicht leichter gewesen, hätte er den Zweifel beseitigen können. Nur den Kopf hätte er freigehabt, für nichts.

„Es gibt Dinge, die lassen sich nicht erfinden.“ Mit dieser poetologischen Äußerung eröffnet Streibel das letzte Kapitel seines Romans, in dem er kurz den Boden der beglaubigten Tatsachen verlässt: „Mutmaßungen über Karl Sperber“, einen Hilfsaufseher, der bei den Brutalitäten mitgemacht hat und erst nach Verbüßen der Haftstrafe von einem noch brutaleren Kollegen loskommt. Robert Streibel entwirft hier das Szenarium des schuldhaften Lebens, das keine Möglichkeit zur Sühne bietet.

Selbstmord ist kein Ausweg, aber ein Ende. Die Überschrift, „Mutmaßungen“, bringt mich auf ein anderes Buch, das Streibel unlängst veröffentlicht hat: „Krems 1938–1945. Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand“. Darin – es ist die überarbeitete Fassung seiner Doktorarbeit – würdigt er den Schriftsteller Uwe Johnson. „Er konfrontiert die Perspektive der Erinnerung durch die Schilderung der Gegenwart und ihrer Kämpfe. Wie beeinflusst das Heute den Blick auf das Gestern? Wenn Krems mein geografischer Fluchtpunkt bleibt, so ist Uwe Johnson mein fiktiver, den es zu erreichen gilt.“

Eigentlich seltsam, ein Roman, dem der Verfasser ein Vorwort voranstellt und ein Personenverzeichnis hinterherschickt. In diesem Fall ist beides legitim, außerdem unverzichtbar. Man erfährt zum Beispiel, dass der eifrige Schundromanleser Josef – eine wegen ihres unschuldigen Blicks zentrale Gestalt des Romans – Streibels Vater gewesen ist. Man erfährt auch, warum der Autor die Namen seiner Helden verändert hat. Dass sich die für ihn „quälenden Fragen zumeist mit den Tätern verknüpfen“. Und warum der verratene Widerstand in Griechenland zeigt, „dass es noch viel schwierigere Voraussetzungen für Erinnerungsarbeit geben kann als in Österreich“. Das Personenregister im Anhang wiederum ermöglicht eine zweite Lektüre des Romans: Es folgt nicht der Chronologie, sondern ist alphabetisch nach Namen geordnet.

Ein aufmerksameres Lektorat und Korrektorat hätte nicht geschadet. Aber dieser Einwand ist, angesichts der Wucht dieses Romans, fast entbehrlich. Gemessen an ihm, wirken die Renner der Saison wie Firmlinge in adretten Anzügen. ■


Robert Streibel stellt seinen Roman am
20. April um 19 Uhr in der Wiener Alten Schmiede, Schönlaterngasse 9, und am
27. April um 19 Uhr im Republikanischen Club in Wien, Rockhgasse 1, vor.

Robert Streibel

April in Stein

Roman. 262 S., geb., €22,90 (Residenz Verlag, St. Pölten)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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