Odin und die Wilde Jagd

In 38 Kapiteln stellt Jacob Grimm in seiner „Deutschen Mythologie“ die religiöse Welt der germanischen Völker dar. Sein Sammeleifer trug so viel Material zusammen, dass wir noch heute darin nachschlagen. Nun liegt eine Neuausgabe vor.

Buchverlage überlegen es sich heutzutage dreimal, bevor sie den Druck einer neuen kulturhistorischen Studie, die eine Epoche vor 1900 behandelt, riskieren. Genügt der – auch schon langsam verblassende – Ruhm von Grimms „Märchen“ wirklich noch, um den (mindestens) neunten Nachdruck von Grimms „Deutscher Mythologie“ zu einem Verkaufserfolg zu machen?

Das Werk wurde erstmals 1835 veröffentlicht (zweite Auflage: 1844, vierte Auflage: 1875–78!). Jacob Grimm, künstlerisch weniger kreativ als sein Bruder Wilhelm, dafür ein genialer wissenschaftlicher Kopf, stellt in 38Kapiteln die religiöse Welt der germanischen Völker (außerhalb Skandinaviens) dar, die Götter und deren Zuständigkeiten, die kultischen Bräuche, die übernatürlichen Wesen der sogenannten niederen Mythologie, das Wirken des Göttlichen in der Natur, die Seelen-, Todes- und Schicksalsvorstellungen.

Im Gegensatz zu Skandinavien war jedoch das Heidentum im übrigen germanischen Raum – Grimm verwendet „deutsch“ meist für „germanisch“ – vom Christentum schon seit dem Frühmittelalter überformt (oft „dämonisiert“) worden, sodass nur noch wenige, meist lateinische schriftliche Zeugnisse davon erhalten geblieben sind. So muss Grimm vornehmlich mündliche Überlieferungen, Sagen, Märchen, Sprichwörter, Ausrufe, Flüche, Spiele, Bräuche et cetera für eine Rekonstruktion der alten germanischen Religion heranziehen.

Besonders wichtige Hinweise gewinnt er aber aus der Sprache, in der allenthalben Reste heidnischer Vorstellungen stecken oder ihm zu stecken scheinen. Dazu gehört natürlich ein starker Glaube an die Kraft des kollektiven Gedächtnisses. Nur in solchem Glauben fühlte Grimm sich befähigt, dem griechischen Pantheon ein germanisches entgegenzustellen, das man damals in aller Regel in Abrede zu stellen pflegte. August Wilhelm Schlegel, der Shakespeare-Übersetzer, hatte es 1816 noch als unsinnig verspottet, wenn man für eine „Rumpelkammer wohlmeinender Albernheit im Namen der ,uralten Sage‘ Ehrerbietung“ verlange.

Noch in Killys „Literaturlexikon“ von 1989 ist der Germanist Frank Shaw geneigt, ihm recht zu geben. Ein Blick in die damals viel beachtete romantisch-fantasievolle „Symbolik und Mythologie der alten Völker“ (1810–12) von Friedrich Creuzer zeigt jedoch Grimms völlig neues, streng philologisches Vorgehen. Seine Grundüberzeugungen blieben davon freilich unberührt. Jacob Grimm war und blieb Nationalliberaler – dafür wurde er 1837 aus dem hannoverischen Staatsdienst entfernt – und Protestant.

Er sah seine „Deutschen“ der frühen Zeit zu Unrecht der glaubenslosen Barbarei verdächtigt. Vor allem hing er der uralten – unserer Zeit weithin unverständlichen – Vorstellung von der kulturellen Überlegenheit des Alten über das Neue an. Mit seinem protestantischen Glauben konnte er dies vereinbaren, indem er in der Religion „aus der einheit die mannigfaltigkeit entspringen“ und durch Übernahme des Christentums dann den ursprünglichen Monotheismus wiedererstehen lässt. Mehr als Spekulation ist dies nun freilich nicht. So etwas hatte schon im 13.Jahrhundert der isländische Gelehrte Snorri Sturluson in der Einleitung zu seiner nordischen Mythologie behauptet: Alle heidnischen Religionen seien unvollkommene Erscheinungsformen der christlichen. Abenteuerlich wird es, wenn Grimm die Bemerkung in der „Germania“ des Tacitus, die Germanen hätten ursprünglich keine Tempel und Götterbilder besessen, als Erklärung für die Notwendigkeit feilbietet, „dass die reformation gerade in deutschland aufging“. Gottlob beschränken sich solche Kurzschlüsse, soweit ich sehe, auf die Vorrede.

Die Zahl der ausgeweiteten Quellen aus so gut wie allen alten und neuen indoeuropäischen Sprachen, insbesondere dem Lateinischen, Altnordischen, Altenglischen, Alt- und Mittelhochdeutschen ist stupend. Da verbietet sich leichtfertige Kritik von selbst. Trotzdem ist die Forschung natürlich seither nicht stehen geblieben. Sie hat nicht nur erstmals archäologische Erkenntnisse eingebracht, sondern auch der Entdeckerfreude Grimms eine Portion Skepsis gegenüber voreiligen Kombinationen und methodischen Einseitigkeiten entgegengesetzt. Grimm entscheidet im Zweifelsfall meist für den heidnischen gegen den christlichen und für den autochthonen gegen den von auswärts entlehnten Charakter eines Belegs. Ganz richtig hat er zwar in der skandinavischen Mythologie eine Sonderentwicklung erkannt, schließt aber von dort immer noch viel zu schnell auf den übrigen germanischen Bereich, etwa bei der Vorstellung von der Versammlung der toten Helden bei Odin in Vallhöll.

Ein (im engeren Sinn) deutsches Walhall, wie es uns von Richard Wagner her vertraut ist, hat es vermutlich nie gegeben. Odin (so im Altnordischen, altniederdeutsch: Wodan, Wagners Wotan) wird von Grimm vermutlich richtig als der oberste Gott aller Germanen erschlossen und mit der (bis in die späte Neuzeit im Volksglauben bekannten) Wilden Jagd, einem gespenstischen Reiterheer, das in den zwölf Nächten um Neujahr im Sturm dahinzieht, in Zusammenhang gebracht. Viele Schlüsse Grimms haben bis heute Bestand. Sein immenser Sammeleifer hat eine unglaubliche Menge von Material zusammengetragen, sodass der Fachmann bis heute darin nachschlagen muss.

Was ein größeres Publikum damit anfangen soll, erschließt sich dagegen nicht so schnell. Grimm setzt Grundkenntnisse der Sprach-, Literatur-, Geschichts-, Religionswissenschaft und Ethnologie einfach voraus, gibt fast nie Übersetzungen seiner unzähligen, teilweise langen fremdsprachigen Zitate und zitiert seine Quellen fast nur mit Abkürzungen. Wer Hilfe von den Herausgebern des Nachdrucks erwartet, wird meist bitter enttäuscht. Eines der häufigsten Zitate etwa lautet: Saem. Im Abkürzungsverzeichnis wird man aufgeklärt: Saem. = Saemundr Sigfússon hinn fródi. Da muss man erst einmal eruieren, dass dieser Isländer (inn fródi „der Weise“) des zwölften Jahrhunderts lange Zeit irrtümlich für den Sammler der Lieder der „Älteren Edda“ gehalten wurde, dass Grimm also eine alte Ausgabe des wichtigsten altisländischen Literaturdenkmals zitiert.

Dazu kommt Grimms altertümliches Deutsch in konsequenter Kleinschreibung. Beides führt in diesem Neudruck zur Vermehrung der ohnehin reichlichen Druckfehler. Wer sich da als Leser durchkämpfen will, muss schon ein wirklich begeisterter Liebhaber des „deutschen“ Altertums sein. Wer sich der Mühe unterwirft, kann freilich unzählige verborgene Schätze finden. ■

Jacob Grimm

Deutsche Mythologie

Vollständige Ausgabe. 1386S., geb., €30 (marix Verlag, Wiesbaden)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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