Stoffbär mit aufgeplatztem Bauch

Xaver Bayers Prosastücke rücken das Marginale ins Zentrum. Eine Wundertüte geheimnisvoller Betrachtungen.

Nein, das inflationär gebrauchte Wort „Flaneur“ sollte für die nächsten zehn Jahre aus allen Rezensionen verbannt werden. Nein, es ist kein Ausdruck von Belesenheit, den Namen Walter Benjamins ins Spiel zu bringen, sobald sich eine literarische Figur ziellos durch Großstadtstraßen – bevorzugt: Paris, Berlin, Wien – treiben lässt, sich Gedanken macht und diese womöglich zu Papier bringt.

Der 1977 geborene Wiener Xaver Bayer macht es einem nicht ganz leicht, all diese ausgetretenen Rezeptionspfade zu meiden. Zu klassisch bewegt sich sein Ich-Erzähler durch eine Metropole, sitzt in Kaffeehäusern oder Stadttheatern, hält auf verwaisten Fußballplätzen inne oder unterhält sich mit Marktfrauen, Bankberatern und Sandlern.

Bayers Ich ist Einzelgänger, selbst an jenen Stellen, da von einer Freundin, von Liebesspielen und einem „Wir“ die Rede ist. Es geht ihm darum zu beobachten, was in den Blick gerät und mit dem zu vergleichen, was Erinnerungen und Träume bereithalten. So entstehen kleine, nicht mehr als zwei, drei Seiten umfassende Prosastücke, die das Marginale, oft Übersehene ins Zentrum zu rücken: „Erstaunlich, was man dabei alles sieht, wie viele Einzelheiten es zu entdecken gibt. Dort zum Beispiel, neben den Mülltonnen, ein Stoffbär mit aufgeplatztem Bauch, da eine aufgerissene Präservativpackung, auf der ein Kaugummi klebt. Ein kleines Grammgewicht, wie es zum Auswuchten von Autoreifen verwendet wird. Und dort drüben: Ein Mann macht einen Schritt aus der Tür eines Optikers, um ein Fernglas auszuprobieren.“

Wo der Blick für die Umwelt derart justiert wird, verliert der Alltag seine Tristesse, zumindest vorübergehend. „Was für ein bemerkenswerter Tag!“, lautet folglich die Schlussfolgerungen jener Sequenz, die den Einzelheiten am Straßenrand gilt. Doch natürlich sind das rare lichte Momente, die nicht verdecken, welchem Elend der Spaziergänger üblicherweise ausgesetzt ist und welcher Anstrengung es bedarf, sich nicht willenlos diesem Elend hinzugeben.

Bayer ist klug genug, seine Wahrnehmungen des architektonisch Hässlichen und des blinden Konsums nicht zu sehr mit gesellschaftskritischem Furor aufzuladen. Gewiss, man sieht das Ich überfordert von ewiggleichen „Straßen und Geschäften und Lokalen“, ja, überfordert auch vom eigenen Körper und von den um die eigene Befindlichkeit kreisenden Gedanken. Mit „Ich will nicht mehr: bürgerlicher Realismus“ schließt so einer der Texte trotzig. Doch Bayer belässt es nicht dabei, sich über seine Zeitgenossen zu erheben und seine Sensibilität zu feiern. Immer wieder lädt er seine Beobachtungen mit skurrilem Witz auf und beschwört, woraus sich ein Leben zusammenfügt.

Bayers kondensierte Notizen sind eine Wundertüte geheimnisvoller, sprachlich fast nie entgleisender Betrachtungen, die nur selten Zuflucht bei abgegriffenen Motiven – dem der stehen gebliebenen Uhren etwa – suchen, um der Wirklichkeit Poesie einzuhauchen. Die Gedanken folgen dem Ich „wie eine Schar Schulkinder, denen ein Ausflug in den Vergnügungspark versprochen worden ist“. So vermischen sich die Gedankengänge mit jenen der Jugendlichen und am Ende weiß man die einen nicht mehr von den anderen zu trennen – bis die „Blicke der Liebenden“ uns zufliegen „wie zahme Jungvögel, die gestreichelt werden wollen“.

Xaver Bayer geht kein geringes ästhetisches Risiko ein, doch er umschifft fast alle Klippen, die eine bewusst poetische Durchdringung der Wirklichkeit birgt. Manchmal wirkt dieses Ich wie ein entfernter Verwandter von Peter Handkes Journalschreiber, und manchmal scheint es mit Wilhelm Genazinos Frankfurter Müßiggängern befreundet zu sein. Keine schlechte Traditionslinie, in der sich Bayers Prosa da bewegt. ■

Xaver Bayer

Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich

204 S., geb., €19,90 (Jung und Jung Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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