Die Bombe, die nicht explodiert ist

In seinem letzten, nachgelassenen Werk suchte José Saramago nach der moralischen Verantwortung des Einzelnen. „Hellebarden“ oder Die Aufforderung zur Sabotage.

Warum wurde eigentlich in der Waffenindustrie nie gestreikt? Diese Frage hat José Saramago (1922 bis 2010) lange beschäftigt. Sie inspirierte den portugiesischen Literatur-Nobelpreisträger zu seinem letzten Roman, „Hellebarden“, in dem die moralische Feinstofflichkeit des Menschen verhandelt werden soll. „Den Aufhänger für den Anfang der Geschichte habe ich“, notiert Saramago im August 2009, „die Bombe, die im Spanischen Bürgerkrieg nicht explodiert ist.“

Artur Paz Semedo hat zu Kriegsgerät jeglicher Art eine beinahe libidinöse Beziehung. Als Unterbuchhalter versieht er gewissenhaft seinen Dienst in der Waffenfabrik Belona A. S. und wünscht sich nichts sehnlicher, als zum leitenden Buchhalter einer Abteilung für schwere Waffen befördert zu werden. Als er in André Malraux' Roman „Die Hoffnung“ (1937) liest, dass in Mailand Arbeiter für Sabotageakte an Granaten füsiliert wurden, ist er zutiefst empört – über die Tat jener Arbeiter: „Für ihn stellte das nicht nur ein schweres Wirtschaftsverbrechen in seiner Branche dar, sondern auch eine persönliche Beleidigung.“

Angestachelt durch Felícia, die ihn wegen seiner unkritischen Waffenbesessenheit verlassen hat, beginnt er eines Tages in den Tiefen des Archivs zu recherchieren, welche Rolle die Fabrik während des Spanischen Bürgerkriegs, aber auch während des Chaco-Kriegs zwischen Bolivien und Paraguay, 1932 begonnen, gespielt hat.

Die Lektüre Malraux' hat auch Saramago tief beeindruckt, ebenso wie ein anderer Vorfall zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs: In einer Bombe, die auf die Truppen der Volksfront abgeworfen worden war, hatte man einen Zettel mit einer auf Portugiesisch verfassten Solidaritätsbotschaft gefunden: „Diese Bombe wird nicht explodieren.“ Zeitungen berichteten damals von diversen Sabotageakten, ermutigende Nachrichten auf Spanisch, Deutsch, Italienisch und Portugiesisch wurden in ganz Spanien gefunden.

„Mir ist in diesen letzten Jahren bewusst geworden, dass ich eine Formel für die Moral suche“, so Saramago 1996. Die moralische Verantwortung des Einzelnen, die „Banalität des Bösen“ beleuchtet er anhand des ambivalenten Verhaltens des Angestellten Artur Paz Semedos. „Die größte Schwierigkeit besteht darin, eine ,menschliche‘ Geschichte zu konstruieren, die in sich stimmig ist“, so der Autor. „Eine Idee ist, dass Felícia zurückkehrt, als sie merkt, dass ihren Mann Neugier und eine gewisse geistige Unruhe überkommen.“ Ein Happy End aber ist nicht vorgesehen: „Das Buch wird mit einem kräftigen ,Scher dich zum Teufel‘ aus Felícias Mund enden. Ein mustergültiger Schluss.“

Saramago wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Liest man die atemlosen Dialoge seiner Protagonisten, könnte man meinen, auch sie wussten es. Am 24.Oktober 2009 vermerkte der Autor in seinen Tagebuchaufzeichnungen zum Fortschritt des neuen Buches: „Es wird im nächsten Jahr veröffentlicht, falls mich das Leben nicht verlässt.“ Saramago starb am 18.Juni 2010, der Roman blieb Fragment.

In der nun vorliegenden Ausgabe wird Saramagos Text sinnvollerweise durch weiteres Material ergänzt: Der Band enthält nicht nur die Arbeitsaufzeichnungen des Autors, sondern auch Texte von Fernando Gomez Aguilera – der Dichter, Essayist und Philologe gehört dem Vorstand der José-Saramago-Stiftung an und konzipierte 2007 eine Ausstellung zu Saramagos Leben und Werk – und Roberto Saviano – der 1979 in Neapel geborene Journalist wurde mit dem Geschwister-Scholl- und dem Olof-Palme-Preis ausgezeichnet und lebt aufgrund wiederholter Morddrohungen durch die Camorra im Untergrund. Illustriert wird die Publikation durch Radierungen von Günter Grass. ■

José Saramago

Hellebarden

Ein Romanfragment. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. 144 S., geb., €20,60 (Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.