Liebe in Zeiten der Stasi-Pest

„Paranoia“, der Politthriller des Weißrussen Viktor Martinowitsch:eine Geschichte von Liebestollheit, Käuflichkeit und Ausgeliefertsein an einen allgegenwärtigen Polizeistaat. Aber auch eine literarische Parabel über geheimdienstliche Repression.

Minsk ist nicht nur wegen des Ukraine-Abkommens bekannt, das dort gleich zweimal geschlossen wurde, mit nach wie vor ungewissem Erfolg. In Minsk herrscht auch seit mehr als zwei Jahrzehnten Alexander Lukaschenko, ein autokratischer Machthaber mit der Aura eines poststalinistischen Fossils. Und in Minsk spielt, ohne dass der Name je fällt, der Politthriller „Paranoia“ des 38-jährigen belarussischen Autors Viktor Martinowitsch.

Der Roman erweist sich als eine (auch sprachlich) wild bewegte Geschichte von Liebestollheit, Käuflichkeit und Ausgeliefertsein an einen allgegenwärtigen Polizeistaat. Im Zeichen wiederauflebender Faszination für totalitäre Staatslenker kann er indes auch als literarische Parabel gelesen werden: als Warnschrift wider die übermächtige Repression durch staatliche Geheimdienstsysteme, nicht nur in einer osteuropäischen Diktatur.

Eine zufällige Begegnung, ein hohes Maß an Leidenschaft und das Fallenlassen aller Vorsicht in einem eng geknüpften Überwachungsnetz: Diese Ingredienzen bringen in Martinowitschs Roman eine Liebesaffäre ins Rollen, deren Folgen unabsehbar werden. Eine Luxusmätresse fischt sich einen jungen Liebhaber, so viel scheint anfangs festzustehen. Nur: Was bringt eine mit allem Überfluss, mit Häusern, Wohnungen, Autos, unbeschränkter Kreditkarte ausgestattete Beischläferin eines Mächtigen dazu, mit einem fantasievollen, frisch vom Erfolg erfassten Schriftsteller eine Affäre zu beginnen? Na-türlich: die unausgelebte Liebessehnsucht. Dennoch spielt hier mehr mit, nämlich die Literatur: Auf diese Weise ist es möglich, eine entlarvende Geschichte über die Liebe in Zeiten der Stasi-Pest fortzuschreiben, manchmal auch auf Kosten der Glaubwürdigkeit.

Denn selbstverständlich werden Anatoli, vor allem aber die Schöne unausgesetzt überwacht. Immerhin ist diese Jelisaweta Supranowitsch, genannt Lisa, die Geliebte des Ministers für Staatssicherheit. So findet denn auch die erste Begegnung der beiden jäh Verliebten in einem Café unter den Augen der stets gegenwärtigen Stasi statt. Ob sie lang auf ihn gewartet habe, fragt Anatoli sein attraktives Gegenüber. „Mein Leben lang“, lautet die Antwort, und man vermag dieses Geständnis vor dem filmreifen Kitsch zu retten, indem man an ihm die wenig reißfeste Spannung abliest, unter der Menschen in Diktaturen sich dem Hochgefühl des Liebesaufruhrs hinzugeben vermögen.

Jedenfalls scheinen die beiden himmelhoch fliegenden Liebesleute alle gebotene Vorsicht in den rauen weißrussischen Wind zu schlagen, weshalb ihre Begegnungen in den naturgemäß verwanzten Wohnungen samt hingebungsvollem körperlichen und sprachlichen Austausch ihren verlässlichen Niederschlag in den Protokollen des Geheimdiensts finden. Da waren die Dissidenten in den Vorgängerdiktaturen des Ostens einst umsichtiger: Sie vertrauten sich ihre Geheimnisse stets nur flüsternd oder in der abhörsicheren freien Natur an.

Aber Jelisaweta ist ein übergroßes emotionales Wunder für den verzauberten Literaten. Zudem betört sie ihn mit rundum glaubhaften Geständnissen ihrer Liebe. Allerdings hört Lisa, wie sich herausstellt, trotz ihrer Liebe offenbar nicht auf, auch mit ihrem Geheimdienstchef zu schlafen. Man kann auch sagen, Jelisaweta verdient sich weiterhin ihr Luxusleben durch die erwartete Hingabe, mit der sie ihren Versorger bedient. Indes, diese Romantikerin der Freizeitliebe wartet gegenüber Anatoli auch mit der Überraschung auf, wie feinsinnig und hochmusikalisch sich der als Pianist brillierende Despot ihr gegenüber stets erweise. Das müsste für den Schriftsteller Hinweis genug sein, dass sich die Dinge komplizierter verhielten als erwartet.

Prompt stellt sich bei Jelisaweta auch eine Schwangerschaft ein, bei der sie jeweils dem einen Geliebten die Vaterschaft des anderen zumutet. Die Auseinandersetzung zwischen Anatoli und Jelisaweta bleibt nicht aus. Plötzlich ist die geheimnisvolle Schöne verschwunden. Ihrem verstörten Geliebten bleibt vorerst nichts als Warten. Das erzeugt Verfolgungswahn. Bis die Stasi in Person eines abgründigen Untersuchungsbeamten einschreitet. Jetzt stellt sich bei Anatoli die wahre Paranoia ein, und die Dinge nehmen den erwartbaren Verlauf: Verhöre, Anschuldigungen, Beugehaft. Schließlich: psychische Folter. Allmählich verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Wahrheit, Albtraum und Wirklichkeit gänzlich.

Man konfrontiert Anatoli mit der blutverschmierten Wohnung Jelisawetas, beschuldigt ihn des Eifersuchtsmords. Indes, die Anklage bleibt ohne Leiche. Ist Jelisaweta überhaupt noch am Leben? In dem geschilderten Polizeistaat ist es üblich, dass unliebsam gewordene Personen verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

So endet der Roman düster, unaufgeklärt, mit umfassender Paranoia des beschuldigten Anatoli. „Ich bin einverstanden, mit allem“, gibt der Gedemütigte am Ende zu Protokoll. Sollte auf diese Weise sein für den Machthaber gefährlich gewordenes Schreiben für immer unterbunden werden? Das Rätsel ist existenziell, es bleibt dem Leser buchstäblich im Hals stecken.

Im kataraktartigen Erzählverlauf einer ebenso waghalsigen wie unrettbaren Liebesbeziehung legt Martinowitsch die Wehrlosigkeit des Einzelnen gegenüber einem skrupellos eingesetzten Machtapparat bloß. Das gelingt ihm mit beklemmender Detailkenntnis. Viele der geschilderten Vorgänge erschließt sich dem Leser aus der Protokollsprache der Überwacher. In den narrativen Passagen wiederum erzählt Martinowitsch bilder- und metaphernselig, setzt auf Üppigkeit, Wortschwelgerei, und wirkt damit mitunter unfreiwillig komisch. Im Ganzen aber beherrscht die tragische Grundstimmung eines Lebens unter dem Unstern einer Diktatur dieses beachtenswerte Erzählerdebüt.

Martinowitschs Roman wurde in Weißrussland wenige Tage nach seinem Erscheinen dem Verkauf entzogen. Die von Thomas Weiler vorzüglich übersetzte deutsche Ausgabe enthält ein enthusiastisches Nachwort des US-amerikanischen Osteuropa-Historikers Timothy Snyder. ■


Viktor Martinowitsch wird am 9. April um 19 Uhr im Wiener Literaturhaus, Seiden-gasse 13, aus seinem Roman lesen und mit Martin Pollack diskutieren.

Viktor Martinowitsch

Paranoia

Roman. Aus dem Russischen von
Thomas Weiler. Nachwort von Timothy Snyder. 402 S., geb., €24,90 (Voland & Quist Verlag, Dresden)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

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