Wie die Fische an Land kamen

Neil Shubin hat sein Buch „Das Universum in dir“ als Reise mit einer Zeitmaschine zurück zum Urknall organisiert. Die kleinsten Teile unseres Körpers, dies die Pointe, haben eine Vergangenheit, die so alt ist wie das Universum.

The Universe Within“, der englische Titel des Buchs von Neil Shubin über seine „etwas andere“ Naturgeschichte der Menschheit, kommt der Angelegenheit des Autors weitaus besser entgegen als die Übersetzung, die irgendwie anbiedernd wirkt.

Das Prinzip Innerlichkeit geht auf Aurelius Augustinus (gestorben 430) zurück: Interior interiori meo – innerlicher als mein Innerstes nennt der Kirchenvater den Ort, wo sein Gott zu finden ist. Die Suche nach Ihm führte den Verfasser der „Bekenntnisse“ zu sich selbst (direxi me ad me), nach innen. Ideengeschichtlich ist also diese Wende längst nobilitiert, sie findet sich in jeder Philosophiegeschichte. Allerdings mit einer kleinen Einschränkung. Statt Gott schreibt Shubin Universum, und das kann nicht reden.

Auch Shubin stellt sich als Suchender vor, dessen Blick während seiner Berufslaufbahn auf Fossilien am Boden gerichtet blieb, die er zum Reden bringen wollte. Das wird im ersten Kapitel erzählt, frei vom Jargon der Fachleute, ohne die Selbstgefälligkeit eines Fachmanns: „Das Glitzern“, erinnert sich Shubin, „das mich gefesselt hatte, kam von einem kleinen weißen Fleck, nicht größer als ein Sesamkorn. Die nächsten fünf Minuten bückte ich mich über den Stein und betrachtete ihn aus nächster Nähe, bevor ich ihn an meinen Kollegen Farish weitergab und ihn nach seiner fachkundigen Meinung fragte. Als der Fleck unter seiner Linse auftauchte, erstarrte er. Er erhob sich aus seiner kauernden Haltung, riss sich die Handschuhe von den Händen und warf sie drei Meter hoch in die Luft. Dann wurde ich von einer der gewaltigsten Umarmungen, die ich jemals erlebt habe, fast erdrückt.“

Im zweiten Kapitel kommt der Urknall zur Sprache. Er soll vor ungefähr 13,7 Milliarden Jahren passiert sein. Man muss den Blick trainieren, um am nächtlichen Himmel schwache Muster zu erkennen, weiß Shubin, dessen Augen eher gewohnt sind, bei Tageslicht zu arbeiten. Aber der Himmel schickte ihm Fotos vom Mars, und sofort erkannte er vertraute Muster des Gesteins, das aus urzeitlichen Dünen entstanden war, wie auf Erden. Das steht im dritten Kapitel.

Verdrießlich für Shubin mag allenfalls die Neuerscheinung „Da draußen. Leben auf unserem Planeten und anderswo“ von Ben Moore sein, einem Astrophysiker. Draußen, nicht drinnen. Über die ersten Millisekunden nach dem Urknall weiß man fast nichts, behauptet Moore. Er ist davon überzeugt, dass in Bälde Beweise für die Existenz außerirdischen Lebens im Universum vorliegen würden. Die angebliche Tatsache eines Urknalls blieb im Übrigen nicht unwidersprochen, von einer Minderheit unter den Sterndeutern, die sich mit dem Gedanken an ein Universum ohne Anfang angefreundet hatte. Wie auch immer. Ob die Welt ewig besteht, wie Aristoteles dachte, oder nicht, wie in der Bibel geschrieben, für Shubin spielen derlei Finessen keine sonderliche Rolle. Sein Blick, erdwärts gerichtet, fällt unter der Dusche eher auf die eigenen Zehennägel.

Die kleinsten Teilchen in unseren Zehennägeln etwa, sonder Zahl und nur mithilfe eines Spezialmikroskops beobachtbar, werden Atome genannt. In ihnen treiben Elektronen, Protonen und Neuronen ihr Wesen. Wie sich Kohlenstoffatome benehmen, wenn ihr Wirtstier stirbt, schildert Shubin im neunten Kapitel. Was wir Naturwissenschaftler treiben, findet er so spannend wie einen Krimi: „Man hat aufgrund von Voraussagen eine Ahnung von der Wahrheit und kann auf dieser Grundlage neue Orte erkunden, neue Gegenstände entdecken und neue Daten analysieren. Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile.“ Um Spannung aufzubauen und zu halten, werden Personen benötigt, die handeln. Shubin findet sie mühelos, teils unter seinen Kolleginnen und Kollegen an US-Universitäten, teils im Klub der toten Pioniere seiner Zunft. Und er erzählt mit Vergnügen.
Shubin hat sein Buch als Reise mit einer Zeitmaschine zurück zum Urknall organisiert. Die kleinsten Teile unseres Körpers, dies die Pointe, haben eine Vergangenheit, die so alt ist wie das Universum selbst.

Um diese These zu erhärten, hat sich Shubin wiederholt in unwirtliche Weltgegenden auf Grönland und in Kenia verfügt, um Fossilien zu finden. Er hatte Glück und brachte ein winziges Überbleibsel dazu, sein versteinertes Schweigen zu brechen und zu verraten, wie die Fische es anstellten, an Land zu gelangen. Damit kamen die Säugetiere ins Gespräch. Der Körper eines Menschen besteht aus zwei Billionen Zellen, 30.000 Gene, die als Ganzes funktionieren. Unsere Augen haben immer die gleiche Größe, ebenso unsere Daumen oder die Zehen.

Eine versteinerte Zehe hat Shubin nicht gefunden. Das spielt deshalb keine Rolle, weil 1953 das Biomolekül DNA entdeckt wurde. Seitdem lässt sich herausfinden, welche Signale aus vorsintflutlichen Zeiten die DNA-Sequenzen heutiger Menschen transportieren. In jedem Stück unserer DNA, so Shubin bereits im Prolog, liegt die mehr als 3,5 Milliarden Jahre lange Geschichte des Lebendigen. Ins Stottern kommt er erst im letzten Kapitel, das einen Blick in die Zukunft „unserer Spezies“ riskiert. Wenn alles gut geht, verschwindet sie nach einer Jahrmilliarde, wenn die Sonne sich weiter so ausdehnt. Für Optimisten beruhigend, doch Shubin macht sich Sorgen um das Tempo, mit dem die Menschlinge in die Zukunft sausen, zumindest in der virtuellen Realität des Internets.

Mit Informationstechnologie konfrontiert, stellt sich Shubin die ketzerische Frage nach der aktuellen Brauchbarkeit der Lehren von Charles Darwin. Auf ihn geht das Schlagwort vom Überleben des Tüchtigsten (survival of the fittest) zurück. Damit ist für Shubin deshalb nicht weiterzukommen, weil es in der gegenwärtigen Unübersichtlichkeit nicht mehr um Darwins Finken geht, sondern um eine Weltbevölkerung von sieben Milliarden, die sich auf reiche und arme Länder verteilt. In den Industrieländern, so Shubin, wo die Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmitteln und technologischen Zaubereien haben, betrifft der Evolutionsdruck die Kinderzahl und den Zeitpunkt, zu dem sie zur Welt kommen. In den Entwicklungsländern hingegen geht es um Sterblichkeit, insbesondere um die der Kinder.

Gegen Darwin gesagt: Sozioökonomische, kulturelle und technische Unterschiede, nicht mehr lediglich die DNA, bestimmen heute laut Shubin darüber, wie die Evolution auf Bevölkerungen einwirkt. Ein Ergebnis, das uns demütig macht, so Shubin. Und beklommen. Haben die Jahrmillionen unserer Evolution dazu geführt, dass wir uns von unserem Planeten und sogar von der Evolution abgekoppelt haben?, fragt Shubin.

Das spricht für ihn. Er weiß, dass in der DNA auch Kopierfehler passieren, zum Beispiel Krebs. Grund genug für ein weiteres Buch aus der Werkstatt Shubins, über die Leibhaftigkeit unserer Spezies in biologischer Sicht. Die Gefahr, dass er dabei auf Gott zu sprechen kommt, ist minimal. ■

Neil Shubin
Das Universum in dir
Eine etwas andere Naturgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. 304S., geb., €22,70 (S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)

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