Links reden, rechts leben

Mit dem Links-rechts-Schema kann man vielleicht noch Wahlkämpfe führen, die Gesellschaft lässt sich so nicht mehr beschreiben, meint der deutsche Soziologe Armin Nassehi.

Die Schwierigkeit, „rinks“ und „lechts“ inhaltlich präzise zu unterscheiden, hat schon Ernst Jandl in „laut und luise“ brillant formuliert. Was gilt heute nicht alles als „links“ und was als „rechts“ und wie viele lautstarke Propheten der einen und Denunzianten der anderen Richtung gibt es doch! Aus Jandls Dilemma hilft auch kein Blick auf den Ursprung der Unterscheidung: Links saßen in der revolutionären Nationalversammlung nach 1789 jene, die damals als Radikale galten; rechts jene, die im damaligen Spektrum als konservativ oder moderat galten. Hier existierten echte Alternativen, wo heute nur mehr einigermaßen akzeptable Bedeutungschiffren mit geringem Informationswert existieren.

Der Rückgriff auf den Klassiker Karl Marx hilft wenig: seiner historisch folgenschweren Bestimmung zufolge sei der Kapitalismus auf Grund seiner inneren Widersprüche an seinem Höhepunkt zum Untergang verurteilt, Subjekt dieses historischen Prozesses seien die Arbeiter, ein Produkt der industriellen Revolution, Vertreter des Ganzen und nicht eines partikularen Interesses, Menschen ohne Vaterland. Dass dem schon damals nicht so war, hat Lenin schon lange vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Mehrheit der Arbeiterparteien fürs „eigene“ Vaterland entschieden, erkannt: die Arbeiterklasse der Länder mit Kolonien würden am „kolonialen Extraprofit“ partizipieren und hätte also sowohl ein Vaterland plus Eigeninteressen. Lenins kaum industrialisiertes Russland sei das schwächste Glied der Kette des Imperialismus. Also würde sich dort unter der Führung von Berufsrevolutionären die Revolution ereignen.

Aber waren die Bolschewiki noch „linke Universalisten“ – oder nicht nur ebenfalls Repräsentanten einer historisch-partikularistischen Haltung, des großrussischen Chauvinismus. Damit – mit dieser Fragmentierung – ein wenig „rechts“, nationalistisch, selbstüberzeugt und mit der moralischen Berechtigung zur Ausbeutung. Ist nicht auch das traditionelle Programm vom linken Umbau der Gesellschaft durch „Neue Menschen“ autoritär – und damit rechts konnotiert?

Solche Fragen treiben Armin Nassehi, Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und Herausgeber des „Kursbuchs“ um. Sicher gibt es noch Felder, in denen der Unterschied zwischen „links“ und „rechts“ sicht- und erlebbar ist; doch das geschieht unter zwei Spielbedingungen: Man redet links und lebt rechts. Sprich: Man plädiert lautstark für Inklusion und sendet die eigenen Kinder in teure Privatschulen. Zweitens: Sobald der Diskurs beginnt, wird er links. Das „Rechte“ und das „Linke“ brauchen einander, Ersteres ist alltagsplausibel, Zweiteres nicht wirklich lebbar. Das Rechte universalisiert Einzelerfahrungen, denen das Linke die Relevanz abspricht; das Linke individualisiert seine universelle Einstellung und wendet sie auf genau jene Einzelfälle an, die das Rechte provozieren – so wird künstlich eine Spannung aufrechterhalten.

So kann man Wahlkämpfe führen, aber nicht Soziologie betreiben. Bis zu diesem Punkt ist Nassehis Buch überzeugend, wenn auch kürzungsbedürftig. Leider kehrt er im dritten Teil des Buches zur historisch abgehakten Links-rechts-Diskussion zurück und veröffentlicht einen nicht wirklich relevanten Briefwechsel mit Götz Kubitschek, einem selbsternannten Vertreter der „Neuen Rechten“ Deutschlands und Herausgeber der „Sezession“. Es gebe, erklärt er ihm, heute keinen Grund, „,rechts‘ in einem starken Sinne zu sein“. Das war wohl schon vorher klar.

Niklas Luhmann, einer der Säulenheiligen unseres Autors, hat den Liberalismus einen Vorsatz genannt, der unfähig sei, eine Gesellschaftstheorie zu tragen. Ähnliches gilt auch für die populäre Kapitalismusschelte: Nassehi kritisiert die Kapitalismuskritiker mit dem richtigen Argument, dass sich dieser mittlerweile eingefressen hätte und nicht mehr isolierbar sei. Nicht „It's the economy, stupid“ sondern: „It's the society, stupid“.

Doch wie sähe eine valide soziologische Gesellschaftstheorie heute aus? Der Autor nennt Voraussetzungen, die auf die liebgewonnenen Dichothomien verzichtet. Solche sind etwa: Aufgabe des „analogen“ Denkens zugunsten eines „digitalen“ und ein neues Verständnis von Komplexität. Das kling gut, aber es ist ja gerade der Effekt von Komplexität (die Kontingenz, echte oder scheinbare, sei nicht vergessen), dass die Eule der Minerva erst im Morgengrauen fliegt. ■

Armin Nassehi

Die letzte Stunde der Wahrheit

Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. 344S.,

geb., €20,60 (Murmann Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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