Zum Kindsein nicht geschaffen

Hilary Mantel befreit sich von Geistern – in einer geistvollen, grandiosen Autobiografie.

Esst Fleisch. Trinkt Blut. Steht mitten in der Nacht auf, stecht euch in die Fingerspitzen und benutzt das Blut als Tinte.“ Das rät Hilary Mantel Menschen, die Schriftsteller sein wollen. Sie hat es selbst so gemacht, als sie ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben hat – falsch, ihre Seelengeschichte. Die Britin, die für gleich zwei ihrer historischen Romane, nämlich Teil eins und zwei ihrer Cromwell-Trilogie, den Booker Prize erhalten hat, die im vergangenen Jahr von der britischen Königin zur Dame Commander des Order of the British Empire ernannt wurde und von der ein Bild in der British Library hängt – diese Frau hat aus ihrem Fleisch und Blut ein Kunstwerk geschaffen, an dem sich wohl nur wenige Autobiografien der vergangenen Jahrzehnte messen können.

Schreibe einfach, sagt sich Hilary Mantel, und es gibt schlichte Sätze in dem Buch, die treffen und wehtun: „Bevor ich in die Schule kam, gab es eine Zeit, in der ich glücklich war.“ Aber die Kindheit ist ein komplizierter Satz, und oft braucht es auch Mantels extravagant scheinende Bilder, um kaum Fassbares auszudrücken; und ihren schnoddrigen schwarzen Humor, um das (beschriebene) Leid erträglich zu machen. Davon nämlich gibt es in „Von Geist und Geistern“ sehr viel. An den Rändern des Erzählten wuchern Angst, Einsamkeit und Schuldgefühle des Mädchens, dessen Eltern sich trennen, aber noch länger im selben Haus weiter wohnen, gemeinsam mit dem neuen Gefährten der Mutter (am Land in den 1960er-Jahren in einer irisch-katholischen Familie!). Aber es sind nicht nur die Familienverhältnisse. Die Schule erlebt das offenbar äußerst fantasievolle und sensible, geistig frühreife Mädchen als unverständlich und schrecklich, ihr Zuhause sind Bücher wie die Artus-Sagen. Kindheit überhaupt war „für mich eine Art Gulag. Es war nicht unbedingt der Fehler einer einzelnen Person. Ich war einfach nicht zum Kindsein geschaffen.“

Mantel findet Worte für dieses nicht zum Kindsein geschaffene Kind und sein doch so kindliches, von den Notwendigkeiten des Lebens noch nicht verstümmeltes Erleben. Ein alter Spaniel ist für das kleine Mädchen „auf eine Weise auch eine Kuh“, was die Erwachsenen nicht verstehen. „Schwindel und Betrug schienen in der Luft zu liegen. Die wahre Natur der Dinge blieb oft verborgen. Niemand sagte offen, was was war; nicht, wenn er es nicht musste.“ Schwer wiegt für die Vierjährige die dumpfe Erkenntnis, dass sie sich nie in einen Buben verwandeln wird, „ich spüre, dass sich die Dinge zu weit von einem idealen Ausgangspunkt entfernt haben“. Das schlimmste Erlebnis, das „eine würgende Hand um mein Leben (schloss)“, kommt, als die Siebenjährige im Garten „eine Unruhe in der Luft . . . einen träge summenden Wirbel“ spürt, eine „Kreatur“, „groß wie ein Kind von zwei Jahren“. Es ist das nackte Grauen. Seitdem ist Gott für das Kind tot, „seitdem bin ich doomy, schicksalsschwer“.

Mantels Erwachsenenleben ist von der Krankheit Endometriose geprägt. Jahrelang unerkannt, bereitet sie ihr große Schmerzen, beschert ihr einen extrem dicken Körper, in dem sie sie nicht mehr wiederfindet (doch „der Geist wohnt, wo er kann“), und verurteilt sie zur Kinderlosigkeit.

„Von Geist und Geistern“ ist voller Geister: der Kinder, die die Autorin nie haben wird; anderer Leben, die sie hätte führen können; oder dem Geist des Stiefvaters, den sie beim alten Familienhaus sieht, als sie hinkommt, um es zu verkaufen – dieses Stiefvaters, dessen „Herz in seiner Brust schlug wie eine Wespe in einem umgedrehten Glas“. Mantel weiß, man schreibt auch, um das Leben seiner Nächsten zu verarbeiten. Ob historischer Roman oder Memoiren, Hilary Mantel erinnert sich auch für die Toten.

Und sie befreit sich in „Giving Up the Ghost“ (so der Originaltitel) von ihnen. Als Kind, schreibt Mantel, wird man hineingesetzt „in die Nische, die in der Familie frei war oder die Lücke, die ein Toter hinterlassen hat“. Immer habe sie das Gefühl gehabt, das Buch ihres Lebens werde von anderen geschrieben – „meinen Eltern, dem Kind, das ich einmal gewesen war, und meinen eigenen ungeborenen Kindern, die ihre Geisterfinger nach einem Stift ausstreckten. Ich habe diesen Text in dem Versuch zu schreiben begonnen, das Urheberrecht für mich zu reklamieren.“ Überzeugender geht es nicht. ■

Hilary Mantel

Von Geist und Geistern

Autobiografie. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 240S., geb., €20,60 (DuMont Buchverlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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