Herz und Leber roh

Sohn, Vater und Großvater fahren jedes Jahr in ein entlegenes Gebiet, um nach Hirschen zu jagen. Statt eines Tiers erlegt der Sohn aber einen Wilderer. „Goat Mountain“: David Vanns Roman über eine von Gewalt geprägte Familie.

Als David Vann vor wenigen Jahren seinen ersten Roman, „Im Namen des Vaters“, bei uns herausbrachte, war sofort klar, dass man es mit einem Meistererzähler zu tun hatte, detailreich und konzentriert zugleich, monumental, einfühlsam und interessiert an großen Menschheitsfragen. Poe, Kafka, Cormac McCarthy sind Namen, die sich bei der Lektüre aufgedrängt haben. Die Themen, die Vann umtreiben, sind die Gewalt, das Töten und die dahinterstehenden Kräfte, die das zulassen und uns womöglich dazu antreiben. Es sind die alten Fragen nach Gott, der Hölle und jenem brüchigen Zwischenreich, in dem wir uns eingerichtet haben. Wielässt sich eine solche Welt fassen?

Im ersten Roman erzählte Vann eineVater-Sohn-Geschichte, die mit dem Selbstmord des Zehnjährigen endet, der seinen Vater nicht mehr erträgt, mit dem allein er Ferien auf einer einsamen Insel vor Alaska verbringen sollte. Vann drehte damit ein Trauma um, das ihn seit damals behelligte: den Selbstmord seines Vaters. Der zweite Roman, „Dreck“, endet damit, dass ein Sohn seine Mutter in einen Schuppen sperrt und dort verkommen lässt. Beide Szenarien wie auch das des dritten Romans gehen von einer Ferien- beziehungsweise Ausflugssituation aus, fernab vom Alltag und für die Kinder jeweils in Erwartung einer positiven Erfahrung. In diesem Fall berichtet der Erzähler eine Geschichte aus dem Jahr 1978, als er (ebenso wie der Autor) elf Jahre alt war. Sohn, Vater, Großvater sowie ein Freund des Vaters machen wie jedes Jahr einen Ausflug in ein entlegenes, felsiges, trockenes Gebiet, in dem ihnen ein Revier mit Camp gehört, in dem sie auf die Jagd nach Hirschen gehen. Viel Jagbares gibt es dort inzwischen nicht mehr, aber der Knabe, der weiß, warum er Schießen gelernt hat, hofft doch, seinen ersten Hirsch erlegen zu können.

Tatsächlich aber ist das Erste, was sie in ihrem Revier entdecken, ein Wilderer, und kaum, dass der Roman in dem ihm zugedachten Gebiet angekommen ist, überfällt den Jungen etwas, wofür es einmal das Wort „Jagdfieber“ gegeben hat, das hier ganz offen die Lust zu schießen und den Wunsch zu töten meint. Er hat selbst ein Gewehr, das er auch nicht aus der Hand geben mag, außer für die schwere Waffe seines Vaters: Das Zielfernrohr zeigt ihm die Brust des Wilderers, und er schießt: „Da war kein Gedanke. Ganz sicher. Da war nur mein Wesen, der, der ich bin, jenseits von Verstehen.“

Der Vater ist erschüttert, der Freund entsetzt, der Großvater nimmt es als Sache, die geschehen ist, und auch der Elfjährige empfindet es als etwas, was vielleicht sogar als das gemeint war, was es nun einmal ist: Er hat jemanden erschossen. Er muss damit zurechtkommen, und er scheint es als das mühsame Vorspiel jener Initiation zu akzeptieren, um die es hier geht: die Einführung ins Leben, also im Verständnis des Romans auch ins Töten. Der Vater, der weiß, dass diese Tat Folgen für alle hat, versucht, die Leiche zu beseitigen, hängt sie am Ende aber nur mit Ketten und Haken da auf, wo sie sonst die erlegten Hirsche zum Ausweiden aufhängen, deretwegen sie herkommen.

So „einfach“ das Ermorden des Wilderers war, so mühsam oder richtiger: mühselig wird es, als der Junge dann tatsächlich seinen ersten Hirsch vor der Waffe hat: Er schießt ihn in die Flanke, und die Seiten, auf denen jetzt erzählt wird, wie der Elfjährige das brüllende, verletzte Tier zu Tode bringt, dann ausweidet und, wie die Regel es verlangt, Leber und Herz roh und warm isst, geraten Vann zu einer brillanten Mordszene, die man mit fasziniertem Abscheu liest – der auch dadurch nicht geringer wird, dass Vater und Großvater das Geschehen unisono mit dem Satz kommentieren: „Jetzt bist du ein Mann.“ Und der Erzähler, den man streckenweise nur schwer vom Autor trennen kann, ergänzt: „Wir trinken das Blut Christi, um wieder zum Tier werden zu können.“

David Vann hat diesen Roman seinem Großvater, einem Cherokee, und dessen Vorfahren gewidmet und schreibt am Ende seiner Danksagung und also des Romans, was hier vollständig zitiert werden muss: „Mit diesem Buch werden die letzten Reste dessenweggebrannt, was mich ursprünglich zum Schreiben trieb, nämlich die Geschichten über meine von Gewalt geprägte Familie. Er schöpft außerdem aus meinem Cherokee-Erbe und der Frage, wohin mit Jesus.“

Der Junge tut, was er tut, wie unter Zwang,empfindet es aber nicht so, und irgendetwas im Leser versteht das womöglich auch. Man spürt, dass Vann auf atavistischen Spuren unterwegs ist, die den Leser des 21.Jahrhunderts ebenso abstoßen, wie sie ihn dahinführen, wo die Anziehung elektronisch gespielter ebenso wie religiös motivierter Gewalt einen Boden haben könnten, an der Grenze zu einer uns latent umgebenden Verführung, jenseits von allem, was unsere aufgeklärte Zivilisation erreicht hat: „Gedanken gelöscht und durch die Welt ersetzt. Unmittelbarkeit und Weite dieser Welt, endlich ein Teil davon, nicht mehr losgelöst. Der Fluch der Menschheit ist der Verlust der Welt, das Denken ist der Verlust der Versenkung.“ Man muss tief durchatmen, wenn man das liest.

„Wohin mit Jesus –“, das meint, je nach Ausgangslage, die Frage nach unseren religiösen Antrieben ebenso wie jene nach dem Mitleid; Vann ist offensichtlich Moralist, nicht Gläubiger. Jesus als jener, der „den Stein bewegte und die Trennung zwischen Lebenden und Toten aufbrach“ und uns das „Dämonenland in uns“ zeigte, die Dämonen, die wir spüren, „wenn die Nacht hereinbricht“, „sie und ihren lungenlosen Atem“.

Fraglos, Vann ist ein Erzähler, der sich nicht nur grausame Geschichten ausdenkt,er ist ein grandioser Erzähler und sehr ernster Mann. Man kann es verstehen, wenn manseine Bücher nicht erträgt, aber man sollte es wenigstens versuchen, von ihm begleitet die Grenze zum Hades zu überschreiten. ■

David Vann

Goat Mountain

Roman. Aus dem Amerikanischen von von Miriam Mandelkow. 270S., geb., €23,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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