Das Land der Ikonen und Küchenschaben

Startschuss für das 100-Jahr- Jubiläum der Russischen Revolution? Orlando Figes' Band über „Russland und das 20. Jahrhundert“ ist kein Kracher.

Orlando Figes war so eine Art Megastar in der Riege der englischen Russland-Historiker, die die Fachwelt immer wieder durch besonders originelle Herangehensweisen an die Geschichte dieses großen Landes verblüfften. Mit „Tragödie eines Volkes“ (deutsch 1998), in dem die russische Geschichte von 1891 bis 1924 abgedeckt wird, und „Die Flüsterer“ (deutsch 2008) über den sowjetischen Alltag unter Stalin schrieb er zwei von der Kritik bejubelte Bücher, alle paar Jahr kamen Monografien zu russischen Themen dazu. Doch dann kam heraus, dass Figes unter Pseudonym in Online-Rezensionen die eigenen Bücher gepriesen und die von Fachkollegen verrissen hatte. Es kam heraus, dass er die Interviews für das Buch „Die Flüsterer“ ungenau und fehlerhaft verarbeitet hatte.

Aber Figes lehrt weiter Geschichte am Birkbeck College der Londoner Universität und schreibt weiter Bücher. Zu vermuten ist, dass sein neuestes Werk, „Hundert Jahre Revolution“, als früher Startschuss zum 100-Jahr-Jubiläum der Russischen Revolution in zwei Jahren gedacht war. Geworden aber ist es kein richtiger Böller, sondern eher ein halblauter Knaller.

Die Geschichte Russlands von 1891 bis 1991 als einen einheitlichen revolutionären Zyklus zu betrachten, erschließt sich bei bestem Willen nicht wirklich. Ja, natürlich gab es in diesen 100 Jahren wiederholt revolutionäre Phasen, die auch miteinander zusammenhängen – 1905, 1917, 1991. Aber dazwischen gab es Phasen der Ermattung und Stagnation, in denen die Dinge auch anders hätten verlaufen können. Zuzustimmen ist Figes, wenn er als „die wirkliche Revolution der Sowjetgeschichte“ die Kollektivierung bezeichnet: „Sie bedeutete den völligen Umsturz einer bäuerlichen Lebensweise, die sichüber viele Jahrhunderte entwickelt hatte – und ein Desaster, von dem sich das Land nie mehr erholte.“

Die Kapitel bis zum Zweiten Weltkrieg sind die besten Abschnitte dieses Buches. Das ist auch der Stoff, den Figes am besten beherrscht und über den er schon viel publiziert hat – Krieg, Revolution, Bürgerkrieg, Stalinismus. Figes ist ein meisterhafter Autor, der es auch geschickt versteht, etwa die berühmten sowjetische Witze in seinen Text einzuflechten und ihn so noch lebendiger zu machen. So manche seiner scharfen Urteile erinnern auch an das heutige Russland Wladimir Putins. So etwa die Abneigung des urbanen Russland gegen das finstere, rückständige, armselige Dorf, das „Russland der Ikonen und Küchenschaben“, wie Trotzki einst spottete; oder der Widerwille der Regierenden gegen Reformen, obwohl sie deren Notwendigkeit genau kennen; oder die Neigung der Herrschenden, die eigene Inkompetenz und Sturheit zu kaschieren und „ausländische Agenten“ für Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen; oder ihre Paranoia, sobald irgendetwas in Richtung eines „liberalen Staates“ weist.

Die „Geheimrede“ Chruschtschows im Februar 1956, in der der damalige KPdSU-Chef den Terror und den Personenkult Stalins geißelte, beschreibt Figes als Anfang vom Ende des Sowjetsystems, weil sie eine nie mehr überwundene Vertrauenskrise ausgelöst habe. Warum konnte sich das Sowjetregime dann aber trotzdem weitere 35 Jahre an der Macht halten? Weil, so Figes, die Sowjetbürger glaubten, dass der Geheimdienst KGB „überall“ sei: „Die Frucht vor der Polizei – durch kollektive Erinnerung an die Stalin-Jahre von Generation zu Generation weitergegeben – sorgte für eine automatische Folgsamkeit, die maßgeblich erklärt, warum das Sowjetregime so lange überdauern konnte, obwohl es seine revolutionären Energien vergeudet hatte.“

Die Abschnitte über die Spätzeit derSowjetherrschaft sind die schwächsten in dem Buch. Sie wirken dahingeschludert, und wiederholt stößt man auf fehlerhafte Angaben. Schade. Vielleicht sollte Figes einmal innehalten und einfach dem Druck seines Verlages, alle paar Jahre ein neues Russland-Buch vorzulegen, widerstehen.: ■

Orlando Figes

Hundert Jahre Revolution

Russland und das 20. Jahrhundert.

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. 384 S., geb., €26,80 (Hanser Berlin
Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2015)

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