Die Stille der Stadt ist nie nur still

Betörend und betäubend: Rüdiger Görner wandelt durch die englische Hauptstadt und macht sich so seine Gedanken.

Der deutsche Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner hat sich nicht nur mit seinen Studien über Ingeborg Bachmann, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl als großer Freund der Lyrik zu erkennen gegeben. Dass er auch selbst eine dichterische Ader hat, zeigte er nicht nur in seinen Prosaarbeiten „Klam“ oder dem soeben erschienenen Roman „Nausikaa oder Die gefrorenen Wellen“, sondern auch in seinem Buch „London, querstadtein“, einer Sammlung von 64 Miniaturen über Görners Wahlheimat.

In der Metropole an der Themse lehrt er an der Queen Mary University of London und gründete 2005 das „Centre for Anglo-German Cultural Relations“. Dass im angelsächsischen Bereich offenbar vergessene deutschsprachige Autoren wie Stefan Zweig oder Hans Fallada in Großbritannien in den vergangenen Jahren Furore machten, darf wohl auch Görners unermüdlichem Wirken zugeschrieben werden.

Seine Miniaturen über London nennt Görner „vieldeutige Liebeserklärungen“. Sie sind Reflexionen des Autors, die auf seinen Wegen durch die Stadt entstanden sind. Er beschreibt das Gedränge in der U-Bahn, das einer Schwangeren buchstäblich die Luft zum Atmen nimmt, aber er genießt auch Spaziergänge in den weitläufigen Parks der Stadt und die Erkundung neuer Stadtteile. Dem Leser erschließt sich ein vielfältiges Mosaik aus Momentaufnahmen von London, für Görner „die stadtgewordene Extremsituation als Dauerzustand“.

Reiseführer ist Görners Buch keines. Das macht aber nichts, denn daran gibt es wahrlich keinen Mangel. Was seine Betrachtungen hingegen zu geben vermögen, ist: die Wahrnehmung des Besuchers für Stadtteile, Gebäude oder Monumente zu öffnen, die sonst verborgen blieben. Hier schreibt jemand mit Kenntnis und aus Liebe. Mögen Formulierungen wie „Rote Teppiche, blitzlichtbetäubt“ nicht jedermanns Sache sein, steuert der Fotograf Rainer Groothuis umso schönere Aufnahmen zu dem Buch bei.

Die Stadt wucherte und waberte

Aus ihnen spricht ebenso wie aus den Betrachtungen Rüdiger Görners die ungeheure Vielfalt und immerwährende Betriebsamkeit Londons. „Die Stille der Stadt ist nie nur still“, notiert Görner und kontrastiert den Wildwuchs der britischen Hauptstadt („Jeder hastet seiner Wege“) mit der geplanten und organisierten Schönheit von Paris: „London wuchs vor sich hin, es wucherte, waberte, polyzentrisch, weil ein Zentrum mit dieser Stadtmasse einfach nicht zu Rande käme.“

Die Menge der Eindrücke und Erlebnisse kann einem schon die Sinne rauben: „Wir torkelten in die U-Bahn, trunken von so viel Stadt“, und der von Görner beschriebene Rausch kommt wohl nicht vom Alkohol. Die ganze Welt lebt in London.

Der Mann aus Afghanistan hat ebenso wie die Frau aus Zypern ein kleines Stück Heimat mitgebracht, und an diesem Zauberort vermischt sich alles zu einem ebenso betörenden wie betäubendem neuen Ganzen. Görner schreibt: „In einer Stadt wie London gibt es eigentlich keinen Alltag. Jede Stunde grenzt ans Außergewöhnliche. Denken lässt sich hier nicht, nur feuilletonieren.“ ■

Rüdiger Görner

London, querstadtein

Vieldeutige Liebeserklärungen. 96S., viele Fototafeln von Rainer Groothuis, geb., €20,50 (Corso Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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