Cousin heiratet Cousine

Ausgangspunkt ist die Sorge einer Großmutter, dass ihr Enkel keine passende Frau mehr abbekom-men könnte. Weshalb sie die Sache selbst in die Hand nimmt. Die Fabulierfreude von Vea Kaiser kennt keine Grenzen. „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“: ein griechisch-niederösterreichisches Degustationsmenü.

Wie schön wäre es, denken sich mitunter selbst hochseriöse Literaturkritiker, wenn es in den Romanen der Saison nicht immer so erdenschwer und kulturpessimistisch zuginge. Würde man nicht ständig mit aufklärerischen Familiensagen oder minimalistischer Kurzprosa behelligt. Wenn..., ja, wenn man häufiger auf Autoren träfe, die frei von der Leber weg erzählen und in ihren Büchern vor allem jene Freude vermitteln, die vom Frei-von-der-Leber-weg-Erzählen ausgeht.

Die 1988 geborene Vea Kaiser hat bereits mit ihrem vor allem aus Seiten- und Nebenwegen bestehenden Debüt „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ (2012), das sogar eine Hamburger Fußballmannschaft in einem Alpendorf hat auftreten lassen, signalisiert, dass sie sich als unverwüstliche Erzählerin sieht, die nicht tagelang darüber nachdenkt, ob man heute als unverwüstliche Erzählerin intellektuell noch satisfaktionsfähig ist, und dass sie eher über zu viele als zu wenige Einfälle verfügt. Ihren mit mehreren Preisen ausgezeichneten Erstling präsentierte die Autorin mit unverstellter Frische und gab Interviews, in denen sie mit ihrem Altphilologiestudium ein klein wenig kokettierte, ohne dass man ihr das wirklich übel nehmen wollte.

Anders als viele ihrer Kolleginnen und Kollegin, die nach einem überraschenden Debüterfolg Probleme haben, ein zweites Buch anzugehen, wirkt Kaisers „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“ nicht so, als sei es lang anhaltenden Schreibblockaden abgerungen. Sie bleibt ihrem Stil treu, braucht zur Erledigung ihrer Aufgaben wieder rund 500, in neun „Gesänge“ unterteilte Seiten, führt ihre Leser mit räsonierenden Kapitelüberschriften durch fast sechs Jahrzehnte, scheint bei kaum einem Thema (selbst wenn es Andreas Gabalier heißt) Berührungsängste zu haben und will, wie sie in einer Vorbemerkung ankündigt, dem „Fabulieren eine Chance“ geben.

Ausgangspunkt ist das Dorf Varitsi an der griechisch-albanischen Grenze im Jahr 1956, ein eher kümmerliches Gemeinwesen, wo der Aberglaube regiert und Hochzeitsnächte ab und zu im Debakel enden. Maria Kouzis hält anfangs die Fäden einer Familiengeschichte zusammen, die sich über fünf Generationen erstreckt und freundlicherweise wie in einem russischen Roman des 19.Jahrhunderts durch einen mitgelieferten Stammbaum nicht an Übersichtlichkeit verliert.

Sorge bereitet der alten Dame vor allem, dass ihr Enkel Lefti möglicherweise keine passende Frau mehr abbekommen könnte, sodass sie die Sache in die Hand nimmt und eine ihrer Töchter sanft nötigt, sich ein weiteres Mal schwängern zu lassen. Eleni heißt das unter diesen sehr pragmatischen Umständen auf die Welt kommende Kind, und mit dieser Cousine soll Lefti dereinst in den Stand der Ehe treten.

Cousin und Cousine sind die nicht ganz heimlichen Helden einer an Helden und eigentümlichen Charakteren reichen Geschichte. So gut die beiden miteinander auskommen, so klar ist, dass Amors Pfeil sie nicht treffen wird – wenngleich sie in den 1970er-Jahren eine Zweckehe eingehen und in das niedersächsische Hildesheim, eine „Kleinstadt mit Großstadtambition“, ziehen werden. Verflochten ist ihr Lebensweg mit der griechischen Geschichte des 20.Jahrhunderts, insbesondere mit der Errichtung der Militärdiktatur 1967 und deren Niederschlagung sieben Jahre später. Während die raubeinige, mit den kommunistischen Klassikern vertraute Eleni keinen Anlass verpasst, lautstark zu opponieren, und deswegen auch im Gefängnis landet, greift Lefti zur eskapistischen Variante und sieht die Politik als das „Schlimmste auf der Welt“.

Gasthaus „Zum spazierenden Zeus“

Auch die Leidenschaft macht vor den beiden Griechen nicht halt: Lefti verliebt sich mitten in Hildesheim in seine Deutschlehrerin Trudi Haselbacher, mit der er, seinen gastronomischen Neigungen nachgebend, in ihren Heimatort, St.Pölten, zieht, wo er die reservierte niederösterreichische Bevölkerung in seinem Lokal, „Zum spazierenden Zeus“, mit ungewohnten Genüssen erfreut. Eleni hingegen bleibt ihrem Revoluzzer- und Hippietum treu, verliebt sich in den Sänger Ottmar Müller, der sich Otto Joe nennt, anfangs auf Bob Dylans Spuren wandelt und dann mit Liedern wie „Weiden im Wind“ als Schlagersänger sein Konto auffüllt. Als freilich Eleni von ihm schwanger ist und er sich nicht rechtzeitig genug zur gemeinsamen Tochter, Aspasía, bekennt, trennen sich ihre Wege, und allen möglichen familiären Komplikationen und Missverständnissen sind Tür und Tor geöffnet.

Was in diesem komischen, lustvoll über die Stränge schlagenden Roman alles passiert, bis wir das Jahr 2014 erreicht haben, lässt sich unmöglich nacherzählen. Erwähnt sei immerhin, dass sich Lefti, als die griechische Küche an Reiz verliert, Degustationsmenüs mit Insektenanteilen ausdenkt und in der Schweiz, der vermeintlichen „Insel der Seligen“, Karriere macht. Und dass Eleni kurzzeitig im kapitalistisch verhassten Amerika landet, in einem Brautmodenladen in Chicago, und einen griechischen Landsmann, Milton, kennenlernt, der als Stiefvater für Aspasía taugt und begierig danach ist, Eleni seine westgriechische Heimatinsel, das fiktive Makarionissi, zu zeigen. Aus einem Kurzurlaub wird ein Daueraufenthalt. Milton und Eleni kurbeln den Tourismus auf dem kleinen Eiland an und stampfen ein bettenreiches Nobelhotel aus dem Boden, das Eleni nach Miltons überraschendem Tod allein führt.

Und am Ende? Ja, es werden weitere Kinder geboren, es kommt zu weiteren kuriosen, manchmal traurigen Ent- und Verwicklungen, von denen die übermütige Vea Kaiser mehr als ein Lied zu singen weiß. Und wie es sich – so viel sei verraten – für eine satte Familiengeschichte gehört, zumindest für eine, die sich Vea Kaiser ausgedacht hat, schließen sich manche Kreise wieder. Urmutter Maria Kouzis hätte daran ihre Freude gehabt.

Einordnen lässt sich „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“ zum Glück nicht. Ein kurzweiliger Unterhaltungsroman, dessenAutorin weiß, dass es leichter ist, Langeweile als Kurzweil zu verbreiten? Eine stilistisch nicht immer ausgefeilte Prosa, in der „Mitgift mitgebracht“ wird, „von „gefühlten Ewigkeiten“, „glasklarsten Erinnerungen“ und – oje –„meistbeobachtesten Köchen“ die Rede ist? Ja, all das – und vor allem eine Bereicherung der deutschsprachigen Literaturlandschaft. 20 Vea Kaisers wären nicht zu ertragen – für die eine sollten wir dankbar sein. Möglicherweise sieht ein großer Internethändler das auch so und wird eine ganz an das Ende der Danksagung platzierte Botschaft großzügig übergehen: „Ceterum censeo Amazonam esse delendam.“ Mal sehen, wer noch Latein kann. ■


Vea Kaiser stellt ihren neuen Roman am
14. Mai um 20 Uhr im Wiener Rabenhof-Theater, Rabengasse 3, vor.

Vea Kaiser

Makarionissi oder Die Insel der Seligen

Roman. 464 S., geb., €20,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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