„Du blödes Mensch!“

Christian Futscher ist ein Chronist der noblen Sorte. In seiner Wiener Vorstadtballade „Frau Grete und der Hang zum Schönen“ begleitet er seine Figur – ohne zu urteilen.

Ein gutes Gespann, die Frau Grete und der Christian Futscher, und ein fideles dazu. Da wird camoufliert, spintisiert und fantasiert, dass einem schwindlig wird: Wer ist wer, wo ist der Autor, wo die Frau Grete? Letztlich gibt man es auf, sich um so Fragwürdiges wie Authentizität zu kümmern – wie oft doch wird authentisch gelogen, dass sich die Balken biegen! –, und lässt sich dieses Futscher-Grete-Leben gefallen, grad so, wie es ist. Nicht fragen, einfach mitgehen. Und mithören. Das heißt, hinhören in das, was immer Frau Grete und Christian Futscher gerade so im Vor und Zurück durch Kopf und Eingeweide geht, Chronologie ist schließlich etwas für mickrige Pedanten.

„Du blödes Mensch“, das hört sie von der Mutter, die Gretl, nachmalige Frau Grete. „Du blödes Mensch.“ Vorstadtgeruch. Die Innenstadt fernes, unerreichbares Terrain, „ich bin ja aus der Wimmergasse nicht rausgekommen“. „Du blödes Mensch.“ Nicht unbedingt böse hingesagt, eher ein Reflex. Wie vieles in diesen Leben, denen zuallererst das Bestehen und Durchstehen des Alltags auferlegt ist. Die Mutter, Blumenstandlerin, lässt 1934 verwundete Schutzbündler in ihre Wohnung, wo sie auf den Arzt warten, wird dafür delogiert, steht auf der Straße, mit allen Kindern: „Ich hab ja nur eine Hose hängen sehen brauchen, und ich war schon schwanger.“ Der Vater wurde vor Jahren von einem betrunkenen Autofahrer zu Tode gefahren. Die Kinder kommen zu Pflegeeltern der grauslichen Sorte, die das staatliche Geld einstecken, die Kinder aber als Klotz am Bein sehen: Schläge, wenig Essen, keine Freuden. Ein Szenario für eine Elendssuada.

Doch genau diese kommt aus der Frau Grete nicht heraus. Sie kann mit dem Leben und seinen Fährnissen umgehen. Stellt sich quasi neben ihr Dasein und schaut gelassen, geradezu beiläufig von oben darauf. Das Schicksal ist halt beiläufig, basta. Der Bruder kommt ins KZ, Wehrkraftzersetzung, nein, er ist kein Widerständler, er findet einen Koffer, darin eine Hauptmannsuniform, die sitzt, wie gemacht für ihn, er kann nicht widerstehen, zieht die Uniform an, renommiert damit. Ein kleiner Angeber schlittert ins KZ, beiläufig – die Nazis konnten nicht lachen –, überlebt das KZ, wird, wieder eher beiläufig, Schleichhändler im Wien der Nachkriegszeit, aber kein sonderlich geschickter. Ein Leben von Tag zu Tag, Pläne sind Schall und Rauch.

Alles passiert zufällig. Oder passiert eben nicht. Das Gemüt aber lässt sich nicht unterkriegen. Was will man, man hat Arbeit, zumeist, genug zu essen, hin und wieder einen kleinen Urlaub, Amouren, Heurigenbesuche mit Freunden, das Leben ist doch gut ausgegangen. Nur nicht jammern, alles kein Unglück, nur eine Laune der Natur, der man mit Schmäh beikommt und die man mit salzigen Worten spickt, man hält sich an das tröstlich Verbogene verquerer Situationen. „Meine Mutter hat's immer mit dem Darm gehabt.“ Na, und dann ist's passiert, dass sichMütterchen auf dem Weg zum Gartenbau, um Blumen zu besorgen, bekleckert. Wäscht sich und die Hose im Magdalenenbrunnen in der Wiedner Hauptstraße – es graust ihr aber vor der Hose –, geht in die Paulanerkirche, hinterlegt, in einer Mischung aus Gewieftheit und Vertrauen, die Hose bei der Marienstatue: „Maria, in deine Hände leg ich meine ang'schissene Hosen.“

Auch die Querelen, die Tag und Sohn und Männer und Umstände bringen, dürfen nicht die Oberhand behalten. Damit würde man schon irgendwie fertig werden. C'est la vie. Dem man sich nicht ergibt, sondern entgegenstellt, auch, wenn es nicht immer ein Honiglecken ist. Punkt und aus. Zu viel Honig verpickt nur den Magen. Mit Gleichmut durch die Wirrnisse seiner Tage gehen, ein Schuss Fatalismus hilft immer. Wer sich vom Glück nicht erdrücken lässt, den erdrückt auch keine Traurigkeit. Und da ist, nicht zu vergessen, als Kontrapunkt und Haltegriff sozusagen, Frau Gretes Hang zum Schönen, den sie gern sich zuschreibt, ja womit sie schmückt. Und der kaum je seine Erfüllung erfährt. Sei's drum, man kann sich vom Leben auch anderes holen, ganz anderes. „Mischpoche und Mischmasch, nicht?“

Der Autor gibt (oder spielt) den genauen Zuhörer, baut seine Dramaturgie um Gespräche und Geschehnisse, möbelt, wissend um das heikle Zuviel, nichts auf und ist ein Chronist der noblen Sorte: Frau Grete verliert kein Gran ihrer Würde, auch in ihren deftigsten Momenten nicht. Kein Wort auf der Waagschale, und doch präzis, weil mit Instinkt gewogen. Weit auseinander sind sie nicht, die griechische Tragödie und die Schicksale der Vorstadt, abgesehen vom vorstädtischen Augenzwinkern. Christian Futscher und Frau Grete ist ein Rarissimum unserer Tage gelungen: eine pralle, saftige Wiener Vorstadtballade. ■

Christian Futscher

Frau Grete und der Hang zum Schönen

208 S., geb., € 19,90 (Czernin Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2015)

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