Der Phallus ist eine Frau

Er wäre halt so gern originell und blasphemisch. Tatsächlich sind Slavoj Žižeks „Blasphemische Gedanken“ über Islam und Moderne bloß abgedroschen, bestenfalls abgedroschen schick.

Die Frage: „Warum zielen Muslime, die zweifellos Opfer von Ausbeutung, Fremdherrschaft undanderen destruktiven und erniedrigenden Aspekten des Kolonialismus waren, in ihrem Gegenschlag gerade auf das, was den besten Teil des westlichen Erbes ausmacht: unseren Egalitarismus und unsere persönlichen Freiheiten?“ Darauf hat Slavoj Žižek in seiner Streitschrift „Blasphemische Gedanken“ Antworten parat, die gerne blasphemisch wären. Tatsächlich sind sie teils abgedroschen, teils absurd.

Wenig originell ist Žižeks Befund, wonach der Westen nach wie vor nicht nur ökonomische und politische Repression ausübe, sondern „diese brutale Realität wie zum Hohn als ihr genaues Gegenteil verkleidet, nämlich als Freiheit, Gleichheit und Demokratie“. Wir sind es mittlerweile gewohnt, einer Imperialismus-Kritik, an der zweifellos viel Wahres dran ist, gebetsmühlenartig zuzugestehen, dass an ihr zweifellos viel Wahres dran ist. Dies einmal ohne Wenn und Aber eingeräumt, bleibt dann offen, welche revanchistischen Akte dadurch gerechtfertigt werden. Doch gewiss nicht der mörderische Anschlag auf Mitarbeiter der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“; gewiss nicht die öffentliche Enthauptung Andersgläubiger; und gewiss nicht die Massenversklavung von Schülerinnen!

Leider scheint, schenken wir Žižek Gehör, die Lage ausweglos. Hinter dem Scheitern aller Verständigungsbemühungen sei eine „Paradoxie“ auszumachen, die uns, gerade wegen unserer liberaldemokratischen Prinzipien, in eine Spirale wachsender Gewaltbereitschaft zwinge. Den Muslimen wäre es demnach unmöglich, uns zu tolerieren, weil dies bedeuten würde, den „Islam als Lebensform“ – so die Überschrift des ersten Kapitels – zu zerstören. Deshalb sei der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ nicht Ausdruck einer bloß punktuellen Empörung gewesen. Denn in den Karikaturen des Propheten Mohammed spiegle sich, laut Žižek, der Geist einer Gesellschaft wider, die das Wesen des Islam negiere. „Kurzum zur Explosion kommt es dann, wenn die Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft nicht einen direkten Angriff auf ihre Religion als blasphemische Verletzung empfinden, sondern die Lebensweise einer anderen Gesellschaft an sich...“

Wohlgemerkt, an diesen Stellen ist von „den“ Muslimen und „dem“ Koran die Rede, so, als ob Žižek eine für den Islam verbindliche Grundwahrheit vor uns ausbreitete. Man fragt sich unwillkürlich, was damit erreicht werden soll. Sollen wir Österreicher uns etwa vor den knapp 600.000 Muslimen fürchten, die bei uns leben, weil sie, laut Žižek, die Lebensweise unserer Gesellschaft an sich als „blasphemisch“ empfinden? Tickt unter uns eine kulturelle Zeitbombe immer lauter?

Das ist absurd. Žižek erinnert indessen an unsere eigenen Abwehrreaktionen gegenüber „Schwulen und Lesben“. Haben wir deren Lebensweise nicht ebenfalls kriminalisiert, ja regelrecht verteufelt? Auch daran ist viel Wahres, freilich heutzutage, angesichts des Life Balls und einer medialen Conchita-Wurst-Euphorie, auch viel Falsches. Wann immer Žižek – wie er sagt – zu denken beginnt, kommt eine schreckliche Vereinfachung oder groteske Verzerrung des „Realen“ heraus.

Lesen wir nur jene Passagen, in denen Žižek das französische Verbot, an öffentlichenSchulen ein Kopftuch zu tragen, aufs Korn nimmt. Dazu wird erklärt, „dass das, was dieses staatliche Verbot verbietet, das Verbot selbst ist (nämlich das Verbot, kein Kopftuch zu tragen), und vielleicht ist dieses Verbot (nämlich das Verbot des Verbots, kein Kopftuch zu tragen) das repressivste überhaupt“. Frankreich ist ein laizistischer Staat, dessen Grundlage die vollständige Trennung von der Religion bildet. Damit soll gleiche Glaubensfreiheit für alle gewährleistet werden. Außerdem steht hinter dem Kopftuchverbot die Ansicht vieler Franzosen – und keineswegs bloß rabiater Feministinnen –, dass die Kopftuchpflicht für Frauen im Islam ein nichttolerierbares öffentliches Zeichen der Geschlechterdiskriminierung sei.

Žižek hingegen bescheinigt dem multikulturellen Staat: „Je mehr Toleranz es gibt, desto stärker wird die repressive Homogenität.“ Wörtlich genommen, heißt dies: Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen ist ein Fall breitflächiger Unterdrückung mittels Toleranz, weil dadurch eine Vielfalt an gesellschaftlichen „Identitäten“ ausgeschlossen wird – darunter die muslimische Identität, wie sie im Koran und der Scharia grundgelegt ist, einschließlich der Ablehnung des Gleichheitsprinzips.

Žižek treibt das Spiel dialektischer Frivolität zu weit. Denn er selbst ist sicherlich niemand, der Gleichheit und Demokratie missen möchte. Hinzu kommt, dass Žižek als „einer der bedeutendsten Denker unserer Zeit“ (Covertext) gilt. Wenn so jemand dem Toleranzprinzip gleichsam lässig attestiert, für „echte Langeweile“ zu sorgen, dann ist das eine postmoderne Abart des radikalschicken Kulturzynismus.

Trotzdem irritieren mich weniger Žižeks Denk-Eskapaden. Anstößiger finde ich die stehenden Ovationen einer Kulturschickeria und Hochglanzintelligenz, die Žižeks Kitzel der Subversion kennerhaft genießt wie süffigen Wein aus dem Vintage-Segment. Da ich mich zu den kreuzbiederen Befürwortern einer offenen Gesellschaft liberaldemokratischen Zuschnitts zähle, finde ich das wohlstandsgepolsterte, rechtsstaatlich umhegte Zündeln mit Ideen am Rande des politischenAusnahmezustands reichlich degoutant – um das Mindeste zu sagen.

Im zweiten Kapitel seines Buches wirft Žižek einen „Blick in die Archive des Islams“. Dabei scheint sich herauszustellen, dass der Islam als Lebensform an der Tiefenpsychologie des Verhältnisses zwischen Mann und Frau hängt. Warum, fragt sich Žižek, ist die Frau im Islam ein „solcher ontologischer Skandal, dass er verschleiert werden muss“? Antwort: Nicht der Schrecken der Enthüllung dessen, was sich unter dem Schleier verberge, sei das wahre Problem, sondern – aufgepasst! – „die Natur des Schleiers selbst“. Denn: „Der ,Phallus‘, der die Frau ist, ist der von dem falschen Penis geworfene Schatten, das heißt das Gespenst des inexistenten ,echten‘ Phallus unter der Verkleidung des falschen.“

Dass die Frau ein Phallus in Anführungszeichen ist – also, ich bekenne, mich hat's überrascht. Zumal ich mir von Žižeks weiterführender Vermutung ebenfalls nichts hätte träumen lassen: „Was wäre, wenn der wahre Skandal, den dieser Schleier zu verbergen sucht, nicht der von ihm verborgene Körper ist, sondern die Nichtexistenz des Weiblichen?“ Persönlich bin ich froh, meiner Frau vor mehr als 40 Jahren unverschleiert begegnet zu sein. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie Žižeks „Nichtexistenz des Weiblichen“ jahrzehntelang unter einem Schleier hätte verbergen müssen. ■

Slavoj Žižek

Blasphemische Gedanken: Islam und Moderne

Aus dem Englischen von Michael Adrian. 64 S., geb., € 5,20 (Ullstein Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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