Hin und wieder ein Mann

Harriet Burdens Erfolglosigkeit als Künstlerin lässt sie auf Rache sinnen. Sie will die „sexuelle Voreingenommenheit“ des Publikums dingfest machen und sie ihm ins Gesicht schleudern. Wer war Harriet Burden, fragt Siri Hustvedt in ihrem vielstimmigen Roman „Die gleißende Welt“.

Im wachen Zustand bin ich eine Frau, aber in meinen Träumen bin ich manchmal ein Mann.“ Der Satz, mitdem Siri Hustvedts 2006 erschienener Essay „Being a Man“ beginnt, könnte als Motto über ihrem neuen Roman stehen: „Die gleißende Welt“ ist selbst eine Verheißung. Beide Verweise sind miteinander verknüpft. Sie bilden die geheime Ouvertüre von Hustvedts vielstimmiger Erzählung.

„Die gleißende Welt“ ist ein entliehener Titel. Er überschreibt einen utopischen Roman aus dem 17.Jahrhundert, verfasst von der Britin Margaret Cavendish, Herzogin von Newcastle, einer der ersten Wissenschaftlerinnen und Schriftstellerinnen, die unter eigenem Namen publiziert haben. Wie unerhört dieses Selbstverständnis war, vermittelt sich durch die vielen noch um 1900 anonym erscheinenden Schriften von Autorinnen, unter anderem eine der Neuseeländerin May Beauchamp, verheiratete Gräfin Arnim. Samuel Pepys, eifersüchtig auf seinen Vorteil bedachter Chronist seiner Zeit, verunglimpfte Cavendish als verrückt, ungebildet, lächerlich. Auch Harriet Burden, die Hauptfigur von Hustvedts Roman, wird lächerlich genannt. Nach Jahren künstlerischer Arbeit, die in erster Linie aus verstörenden Installationen besteht, geht sie, inzwischen die Frau eines mächtigen New Yorker Galeristen, in die innere Emigration.

Während sie an der Seite des international tätigen Felix zu der Person zu werden scheint, die den Erwartungen der Kunstwelt und jenen ihres Ehemannes perfekt entspricht, nährt sie enttäuscht die Überzeugung, dass ihr mangelnder Erfolg ihrem Geschlecht und ihrer zwar komfortablen, doch auch delikaten Lage zuzuschreiben ist.

Die Verbindung mit Felix ist natürlich ein Doublebind. Hätte er sie gefördert, hätte man das als unlauteres Ergebnis ihrer privaten Verbindung angesehen. Da sie auf seine Förderung verzichtet hatte, ging die Kunstwelt davon aus, dass es in den Augen des Kunstpapstes Felix nichts zu fördern gab. So jedenfalls notiert Harriet Burden es in ihren zahlreichen Tagebüchern, die sie über die Jahre verfasst. Unter der guten, lang sogar glücklichen Ehe nagt Harriets Enttäuschung. Aus der Enttäuschung wird mit den Jahren Bitterkeit. Aus der Bitterkeit entspringt, wenig verwunderlich bei einem Menschen, für den Resignation keine Lösung ist, der Wunsch nach Rache. Und aus dem Wunsch wird zu gegebener Zeit Besessenheit.

Anders als ihr großes barockes Vorbild Margaret, das sich ganz offensichtlich um Einschätzungen wie die ihres Zeitgenossen Pepys wenig schert, verstrickt Harriet Burden sich in ihrer Fixierung. Sie entwickelt einen in ihren Augen genialen Plan, der darauf angelegt ist, Ignoranz und Schmalspurigkeit des Publikums zu beweisen. Der Plan heißt „Being a Man“ und ist ein Kunstprojekt, Akt der Simulation schlechthin. Aber was als Camouflage, als Fopperei, als spielerische Täuschung und verführerischer Schauer in Erscheinung treten könnte, droht durch Harriets blinde Besessenheit zu implodieren. Ihre Sichtweise der Geschichte ist die einzige, die sie sich vorstellen kann. Trotz der Tagebuchaufzeichnungen, der Planungen, der Entwürfe, des Austauschs mit Vertrauten fehlt ihr die Distanz.

Von einem Leben ins andere

Den Entschluss, ihren Plan in die Tat umzusetzen, fasst Burden nach dem unerwartet frühen Tod ihres Mannes. Die Kinder, Maisie und Ethan, sind inzwischen erwachsen. Harriet ist vermögend, ungebunden, entscheidungsfrei. Sie verschwindet aus ihrer vertrauten Umgebung und vertauscht die Upper East Side von Manhattan mit einem alten Lagerhaus in Redhook. Hier richtet sie sich ihre Wohnung, ihre Ateliers und einen Trakt von Gästezimmern ein, entwirft ein neues Leben und einen zu ihrem früheren diametralen Alltag.

Redhook ist über weite Teile Brooklyns Niemandsland, häufig überschwemmt, abseits gelegen, schwer zu erreichen. Außer einer tagsüber pendelnden, kleinen privaten Fähre, die es inzwischen gibt, hat nie eine öffentliche Verkehrsverbindung existiert. Die am Hudson gelegene Ödnis von Speichern, Schuppen und verwahrlosten Häusern dämmerte unbeachtet vor sich hin, bis in den vergangenen Jahren mehr und mehr Kreative zuzogen, die die Mieten in Manhattan, längst aber auch jene in Dumbo, Williamsburg und Park Slope nicht mehr bezahlen konnten. Zu der Zeit, als Hustvedt ihre Protagonistin nach Redhook ziehen lässt, war dieser Teil Brooklyns im Bewusstsein der meisten New Yorker gar nicht vorhanden.

In der Einsamkeit, unbehelligt von jeglichem gesellschaftlichen Tamtam, nimmt Burden wieder die Arbeit an ihren dreidimensionalen Bildwelten auf. Parallel zu den mehrräumigen, mit hybriden Wesen bevölkerten Szenarien erarbeitet sie ein nicht minder ausgeklügeltes Konzept, das ihre Visionen in die wirkliche Welt geleiten soll. Burden plant eine Serie von drei großen Ausstellungen. Für jede der drei will sie sich einen männlichen Künstler suchen, der mit Namen und Person als Strohmann fungiert. Die Protagonisten ihres Experiments wählt sie, dessen ist sie sich sicher, sorgfältig aus.

Bei dem zweiten Anlauf in ihrem Künstlerinnenleben will Burden nicht mehr nur mit und durch ihre Kunst die Betrachter verstören. Sie macht sich auf, die „sexuelle Voreingenommenheit“, die „genauso wie Neid, Groll, Dünkel oder Rassismus in einem Raum wie ein Geruch“ wahrzunehmen ist, dingfest zu machen und sie sodann ihrem Publikum ins Gesicht zu schleudern. Burden will echte Katharsis. Heulen und Zähneklappern. Kein lauwarmes Aha. Am Ende des Ausstellungszyklus will sie ein zerknirschtes Publikum sehen. Durch die Erfahrung des Experiments gedemütigt, soll ihm die Einsicht über die eigene Unzulänglichkeit in den Augen wie Seife brennen. Das soll Harriets Rache sein. Ob ihr Plan aufgeht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Als der vielstimmige Roman einsetzt, ist Harriet Burden bereits tot. Eine der erzählten Zeit vorangestellte „Einführung“ der fiktiven Herausgeberin, I.V. Hess, unterrichtet den Leser davon, wie es zu dem Buch kam, worauf es basiert und was es mit den Experimenten Harriet Burdens, ihren künstlerischenInstallationen und der Ausstellungstrilogie „Maskierungen“ auf sich hat.

Die vorliegende „gleißende Welt“ sucht nach einer Antwort darauf, wer Harriet Burden war. Ob das, worüber sie in ihren Notizenfast verzweifelt ist, Wahn oder Wirklichkeit ist. Ob die Presseberichte über sie und ihre Arbeit der „Wahrheit“ entsprechen. Wurde Burden unrecht getan? Wer ist der wahre Autor des letzten Teils der Maskentrilogie? Ist die Künstlerin, die sich als Opfer geriert, wirklich ein Opfer? Oder ist sie, motiviert durch einen distanzlosen Wahn, zur Täterin geworden? Wer hat wen benutzt?

Als die Kunstprofessorin I.V. Hess ihre Arbeit an dem Buch aufnimmt, sind die öffentliche Kritik, die Rezensenten, die Rezipienten, die Historiker, die Theoretiker sich uneins darin und akzeptieren keineswegs, was Harriet Burden zu ihren Lebzeiten für bewiesen gehalten hat. Hustvedt macht aus der Herausgeberin, I.V. Hess, eine Koordinatorin der verbliebenen Stimmen, ähnlich wie es der Reporter in Orson Welles' „Citizen Kane“ tut. Einzelne Personen, die Burden unterschiedlich gut gekannt haben, kommen zu Wort: die Galeristin Cynthia Clark, Harriets Kinder, Maisie und Ethan, ihre langjährige Freundin, die Psychoanalytikerin Rachel Briefman, Burdens Analytiker, eine Kritikerin, der letzte Lebensgefährte Budens, die Assistentin des ersten Strohmanns und schließlich Burden selbst mit ihren Notizbüchern, die ihre Kinder im Nachlass entdeckt haben. Die Gegensätzlichkeit dieser Äußerungen, die sprachlichen Eigenarten sind spannend. Konflikte, Idiosynkrasien, Eitelkeiten, Gemeinheiten blitzen darin auf. Bei den Texten über Burden und ihre Arbeit handelt es sich um Interviews, Erinnerungen, Analysen, Rezensionen. Die Texte zeichnen nicht nur Burdens künstlerische Welten nach, sondern auch ihre Beweggründe, von denen Rache allerdings nur einer ist.

Die unterschiedlichen Notiz- und Tagebücher Burdens stellen zwar nicht das Herzstück des Romans dar, aber sie sind sein Problem. Zum einen ist es faszinierend, der fiktiven Künstlerin in ihren Visionen zu folgen. Es ist die gleiche bildnerische Anziehung, die den Leser schon in Hustvedts frühen Romanen „Die unsichtbare Frau“ und „Die Verzauberung der Lily Dahl“ euphorisiert hat. Wenn die Schriftstellerin die fiktiven Kunstwerke ihrer Protagonistin beschreibt, Entwürfe, Arbeitsweise und Ergebnis, entsteht der Eindruck, es gäbe diese Kunstwelten wirklich. Als sei die Autorin auch eine bildende Künstlerin.

Man fühlt sich hier mitunter an die künstlichen Körper, Texturen, Räume und „Zellen“ von Louise Bourgeois erinnert, eine irritierende Erinnerung, war Bourgeois doch in ihrer Art zu arbeiten das Gegenteil der fiktiven Harriet Burden: eine sich unermüdlich an der eigenen Geschichte, dem eigenen Zorn, der Selbstbeobachtung, der Reaktion auf ihre Vergangenheit abarbeitende Forscherin, der es ausschließlich um das Werk ging, die gerade auch in Phasen großer Verzweiflung das Werk und ihre tägliche Arbeit daran in den Vordergrund stellte, unabhängig vom Erfolg. So verwandt Bourgeois' ausgestopfte Wesen, fragmentierte Körper, körperliche Versatzstücke jenen der fiktiven Künstlerin Burden sein mögen, so sehr beidesich an den Schranken abarbeiten, die eine ignorante Gesellschaft jahrhundertelang gegen inspirierte Frauen errichtet hat, um sie aufzuhalten, so sehr unterscheiden sich die Tonarten ihrer Notizen. Bei Bourgeois trifft man auf Klarheit und Distanz, bei Burden auf Selbstverlust in gefräßigen Emotionen wie Rache, Enttäuschung, Neid. Darüber ergießt sich ein theoretisierender Redefluss. Diese Passagen sind es, die den Roman zuweilen schwerfällig machen.

Theorie und Erzählung verbinden

Die von Frau Professor I.V. Hess initiierte Spurensuche erweist sich dagegen immer dann als erhellend, wenn sie das spekulierende Terrain verlässt. Hustvedt, selbst eine glänzende, aufmerksame, belesene und genau argumentierende Theoretikerin, die sich von Konventionen nicht einschüchtern lässt und sich als erstes Experimentalobjekt sieht, versucht in diesem mehr als in ihren vorherigen Romanen, Theorie und Erzählung zu verbinden. Das geht nicht nur auf Kosten der Spannung, sondern mindert das, was in ihren anderen Romanen so eindrücklich ist: das Atmosphärische, Subversive, Irritierende, das jenseits einer definitiven Zuordnung liegt.

Das Interessanteste an der Spurensuche, die letztlich keine „Rosebud“ hervorbringt, sind die sich unterschiedlich äußernden Wegbegleiter der Künstlerin. Wie immer bei Schriften über einen anderen handelt der Text in erster Linie von der Person, die ihn verfasst. Das allein ist entlarvend und folgt der Unterstellung, die Harriet Burden setzt. In der Vielstimmigkeit der Beiträge schimmert endlich das auf, womit die Zentralfigur nicht gerechnet hat, nicht rechnen konnte, weil sie durch unbeherrschbare Emotionen verblendet war. So komplex ihre Arbeiten sind, so komplex sind die Reaktionen auf Autor und Werk, so abhängig ist das Urteil eher von jenem, der es fällt, als – bitter genug– vom Produkt und Produzenten.

So ist die bittere Erkenntnis am Ende des Romans, dass Burden das Spiel der Verblendung mit ihren Maskenausstellungen nicht etwa durchbrochen, sondern sogar befördert hat. ■

Siri Hustvedt

Die gleißende Welt

Roman. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller. 512S., geb., €23,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2015)

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