Die Kunst des Unfertigen

„Setzkasten“: Friedrich Hahns skurril-lyrische Episoden eines geträumten Lebens.

Tag für Tag versucht Einer, festen Boden für seine Existenz herbeizudenken. Denn Einer, so heißt in Friedrich Hahns Roman „Der Setzkasten“ die Hauptfigur, ist 20-jährig „so trallala“ aus einem Spital entlassen worden: ohne Erinnerung an Herkunft und Jugend, aber mit einer Wohnung und gut gefüllten Bankkonten. Keine Eltern, Verwandten, Schule, keine besonderen Kenntnisse, Neigungen, sagt Einer über sich. Letzteres stimmt nicht ganz. Wie auch die Protagonisten in Hahns früheren Büchern – in aller Regel etwas einzelgängerische Männer – hat auch Einer seine Spleens. So macht Einer „alles Vorgefertigte, überhaupt alles Fertige fertig“. Den titelgebenden Setzkasten, den er auf einem Flohmarkt ersteht, lässt er konsequenterweise leer.

Einer mag Drehtüren und Kreisverkehre, er liebt Anfänge, unvollendete Symphonien, und vor Filmende geht er aus dem Kino. Zu seinem eigenen irdischen Anfang findet er nur Sperrvermerke. Doch er forscht gar nicht weiter, sondern macht sich auf die Suche nach eigenen Beziehungen zwischen einem tastend erlernten Alltag und Episoden eines geträumten Lebens.

Gegen Merkprobleme baut er sich Eselsbrücken, „bis die Welt nur noch aus Eselsbrücken besteht“. So bleiben Esel, und „ein paar Brücken für die Euroscheine“. Einer hat zwar keine Kindheit, aber einen kleinen Sprachschatz, den er erweitert, mit dem er in lakonischen Sätzen und manierierten Zitaten jongliert. Manches hört sich nach Allerweltsweisheit an, anderes klingt nach reinster Poesie. Der Autor, Maler und Objektkünstler Hahn verleugnet auch den Lyriker nicht.

Einers Schicksal als literarische Versuchsanordnung ist reichlich skurril. Kurz träumt er von der Filmbranche, doch seine Karriere beginnt und endet als Foto eines Ermordeten am Kaminsims der Witwe: Für zwei Sekunden ist er groß im Bild und in Millionen Haushalten präsent – und das war's dann. Die Romanhandlung ist oft drehbuchartig skizziert und in kleine Häppchen, Gedanken, in Rede und Gegenrede getaktet.

Twitterkurze Dialoge

Manches kommt lapidar daher, doch man muss auf der Hut sein: Hahns Sprache ist auch in kleinsten Passagen dicht, poetisch aufgeladen, und manchmal fast zu klug für den gedächtnislosen Protagonisten. Einers philosophische Reflexionen entstehen aus oft twitterkurzen Dialogen mit Gisela, seiner Wohnungsnachbarin, Freundin und späteren Geliebten. Mit ihr schwärmt er „Löcher in die Luft“, während Giselas Lippen „ganz und gar Bühne sind, wo jedes Wort seinen Auftritt hat“.

Im Bett ist er mit ihr unsicher, aber doch für eine gelegentliche „Unterraschung“ gut. Auch Gisela hat eine schwierige, konkret: eine neue Identität, nachdem sie in ihrem ersten Leben in einem Zeugenschutzprogramm gegen einen osteuropäischen Tycoon ausgesagt hat. Aus jener Zeit hat Gisela einzig ihre Freundin Jette in ihr neues Leben herübergerettet. Und ausgerechnet Jette sammelt „Zuneigung wie andere Bierdeckel“ und zerredet „Bedeutungsvolles in kleine Häppchen der Bedeutungslosigkeit“ – bis Einer „Jettes Lippen mit einem Kuss versiegelt“. Entwickelt sich also zwischen Gisela, Einer und Jette eine abgeschmackte Dreiecksgeschichte mit Lug, Trug und Eifersucht? Weit gefehlt.

„Vielleicht muss man übers Ziel hinausschießen, um sich selbst zu treffen“, sagt der gegen Schluss des schmalen Bandes gut 30-jährige Einer. Bekanntlich mag er keine Enden. ■

Friedrich Hahn

Der Setzkasten

Oder: Erwin und die halben Luftballons. Roman. 120S., geb., €17,60 (Edition Keiper, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2015)

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