Immer schön brav bleiben!

Gegenwartsdiagnose: Thomas Raabs satirisches Roman-Experiment „Netzwerk-Orange“.

Die Anspielung im Titel ist nicht zu übersehen: „Die Netzwerk-Orange“ heißt der neue Roman von Thomas Raab, frei nach Anthony Burgess' „A Clockwork Orange“. Allerdings fällt Raabs Roman wesentlich satirischer aus und präsentiert keine Zukunftshorrorvision, sondern persifliert die gegenwärtige Gesellschaft.

Sind es bei Anthony Burgess noch Jugendkriminelle, die die Regierung einer „Gehirnwäsche“ unterzieht, um sie zu resozialisieren, so werden bei Raab gleich alle Mitglieder der Gesellschaft des „Unionsstaates“, in dem der Roman spielt, „therapiert“: und zwar – was für eine Pointe – mit Literatur! Ein schlaues Computerprogramm kreiert passgenau für jeden einzelnen Leser je nach dessen momentaner Gefühls- und Problemlage eine kurze Fabel frei nach Äsop. Die Qualität dieser kurzen literarischen Computerergüsse kann man sich ungefähr vorstellen, Raab hat sich für seine Leser auch einige ausgedacht, die die Sinnlosigkeit beziehungsweise Absurdität des Ganzen eindrücklich bestätigen.

Um die Qualität der Texte geht es abergar nicht (mehr), die moniert keiner, man liest ohnehin nur oberflächlich und sieht in der Computerliteratur, was man eben darin sehen möchte. Damit ist das Ziel der Regierung aber auch schon erreicht, geht es doch nur darum, die Menschen bei Laune und mit sich selber beschäftigt zu halten, damit sie ja nicht auf die Idee kommen, politisch zu werden.

Gravierende Schwierigkeiten hat die Gesellschaft in Raabs Zukunftsvision keine mehr: Man schreibt das Jahr 2025, die Krise ist bewältigt, der Kollaps nicht eingetreten, alles hat sich stattdessen zum Positiven gewandelt, man lebt in Frieden und Wohlstand, alles ist gut – solange ebenjeder brav Nabelschau betreibt, während die Regierung heimlich alle über das totale Netzwerk „fernsteuert“.

Literatur als Tranquilizer

Entsprechend stolz ist der regierungsbeauftragte Psychologieprofessor Franzer, der seiner Doktorandin Buresch die Wirkung seines literarischen „Cyberpeuten“ im Roman vorführt. Er nimmt sie mit auf eine Reise quer durch die „Segmente“ der Gesellschaft und zeigt ihr den literarischen Tranquilizer in Aktion. Aus dem iPhone ist das xPhone geworden, statt MacBooks gibt es Fringebooks, statt Tattoos sind Ziernarben in, und Hyundai und BWM haben fusioniert, ansonsten gleicht das Raab'sche Panoptikum, das Franzer und Buresch durchwandern, aber geradezu erstaunlich einem Porträt der heutigen westlichen narzisstischen Konsumgesellschaft. Widerstand gegen „das System“ regt sich kaum, nur drei Studenten werden bei den neuen literarischen PC-Idioten-Fabeln skeptisch. Am Ende kommt es dann auch zur Revolution, aber die will nicht so recht klappen.

„Die Netzwerk-Orange“ ist eine kluge Persiflage auf unsere Gesellschaft, und es sind die vielen kleinen, ebenso originellen wie komischen Details, die die Qualität von Raabs Satire ausmachen. Leider nur sind die 330 Seiten ziemlich anstrengend zu lesen. Es gibt kaum eine wirkliche Story, stattdessen immer wieder abstrakte wissenschaftstheoretische Passagen, und der nüchtern-bürokratische Stil, in dem Raab erzählt, hemmt den Lesefluss.

Zweifellos ist das alles kalkuliert und beeindruckend konsequent durchgehalten, man muss sich als Leser nur darauf einlassen (wollen). „Die Netzwerk-Orange“ ist eben ein eigenwilliges, originelles Buch und mehr Roman-Experiment als herkömmlicher Roman. ■

Thomas Raab

Die Netzwerk-Orange

Roman. 336S., geb., €24,90 (Luftschacht Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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