Wilder werdende Alpen?

Wasserschloss mit Bettenburgen? Werden die Alpen zum Ergänzungsraum für eine städtische Gesellschaft? Es droht der Verlust der Selbstbestimmung und damit der Diversität, meint der Kulturgeograf Werner Bätzing in seiner Streitschrift „Zwischen Wildnis und Freizeitpark“.

Die Luft in den Alpen wird dünn: Aus drei Vierteln des einstigen Lebens- und Wirtschaftsraums wandern Menschen von der alpinen Peripherie in die städtischen Bänder in den Tallagen ab. Dort vernetzen hochleistungsfähige Transitlinien die Zersiedlungsräume – „Zwischenstädte“. In den entvölkerten Seitentälern und höher gelegenen Flächen konzentrieren sich wie Inseln massiv ausgebaute Tourismuszentren. Es rechnet sich nicht mehr, die Straßen in Regionen mit geringer Wertschöpfung sowie die technischen Schutzmaßnahmen für kleinere Kommunen zu erhalten. Traditionelle Räume, Nutzflächen, Wege werden aufgegeben. Sie verwildern. „Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungen weiter fortsetzen, wird die Zukunft der Alpen furchtbar – die Alpen zerfallen nur mehr in verstädterte Gebiete und Wildnisgebiete“, befindet der bekannte Geograf Werner Bätzing in seiner großartigen Streitschrift zur Zukunft der Alpen, „Zwischen Wildnis und Freizeitpark“.

So ein „neoliberales Szenario“, wie der Alpenexperte scharfsichtig, textlich dicht und in vielen möglichen Konsequenzen beschreibt, ist nicht fern: Der Verlust von Wirtschaftskraft einer bäuerlichen Kulturlandschaft ist in einigen Ländern und Regionen des Alpenbogens weit vorangeschritten – Bätzing nennt hier etwa die Schweiz, die Abwanderungsregionen in den Westalpen. Durch ihr Gelände sind die Alpen ohnedies nur kleinräumig zu bewirtschaften, und die Globalisierung bringt sie noch zunehmend in eine „randliche Rolle“. Mit der Rentabilität sinkt die Bereitschaft, die diversen Strukturen zu erhalten. Gewinn fließt ab, und es scheinen nur wenige moderne Nutzungsformen wie der Tourismus oder die Energiewirtschaft als Hoffnung zu bleiben – erstaunlich wenige Optionen eigentlich, gemessen an der außerordentlichen Vielfalt dieses Lebensraums, meint Bätzing.

Bedrohlich erscheinen viele der aktuell diskutierten, bloß zeitgeistigen Alpenperspektiven aus der Sicht des Professors für Kulturgeografie und wissenschaftlichen Beraters der Internationalen Alpenschutzkommission Cipra. Denn in der touristischen Komplettvereinnahmung wie der industriellen Nutzung als „Wasserschloss“ wohnt die gleiche Gefahr inne wie etwa dem massiven Infrastrukturausbau oder einer radikalen Unter-Naturschutz-Stellung: Der Verlust der Selbstbestimmung droht. Zudem lässt der Zentralismus die Alpen Gefahr laufen, „anonyme, austauschbare, kurzsichtige und verantwortungslose Strukturen“ hervorzubringen. Sie werden degradiert zum Ergänzungsraum einer städtischen Gesellschaft.

So betrachtet ist einem Diskurs über die Zukunft der Alpen immer auch ein großes Stück Kapitalismuskritik eingeschrieben. Und zugleich eine Gegenposition: Nicht so sehr Geld, sondern vielmehr kulturelle Normen und Werte können und müssen in einer positiven Entwicklung eine Schlüsselrolle spielen. Es gelte die Vielseitigkeit, die Unterschiede zu erhalten und sich vom Dogma der Monostrukturen abzuwenden. Bätzing spricht hier von Mischnutzungen und Multifunktionalität, wie sie die Bewohner des Alpenraums immer schon gelebt haben. Dort und da gelingt es, „Orte guten Lebens“ (so auch ein Buchtitel aus Bätzings eindrucksvollem Alpen-Portfolio) zu schaffen beziehungsweise zu erhalten. Dass dabei die regionaltypische Produktion eine wichtige Rolle spielt, zeigt allein schon die starke Nachfrage aus den Städten in den alpinen Randgebieten. Keineswegs „unzeitgemäß“, wie Bätzing seine Utopien ironisch übertitelt, ist es daher, dezentral zu agieren und explizit alpenspezifische Lösungen anzustreben. Sei es in einer nachhaltigen Regionalentwicklung, sei es in der Landwirtschaft, sei es in der Rohstoffverarbeitung.

Warum eine Streitschrift? Warum dieses Kopfzerbrechen über die Zukunft der Alpen, die als fantastisches geologisches Bauwerk doch so unverrückbar sind? Und warum dort, wo sie als Kultur-, Wirtschafts- und Lebensraum ihre Bedeutung verlieren, die Alpen sich nicht selbst überlassen? Weil sie dann tatsächlich verwildern: verbuschen, zuwachsen. Eine positive Entwicklung, möchte man meinen, wenn die Natur sich Gelände quasi zurückholt. Das Dilemma allerdings ist: Aufgegebene Kulturlandschaften tendieren in Zeiten des Klimawandels, Naturgewalten nicht mehr standzuhalten. Sie verlieren ihre Diversität. Bätzings Befund ist drastisch: Die sprunghafte Naturdynamik nimmt zu, Berg- und Felsstürze, Steinschlag, Hochwasser, Muren und Lawinen sind die Folge. Die geologischen Verhältnisse in diesem jungen Gebirge sind durch eine wilde Auffaltung und Quetschung auch so heterogen, dass die Alpen zwar reich an Bodenschätzen sind, zugleich aber über schwierige Bodenverhältnisse verfügen.

Die Alpen vor rund 10.000 Jahren muss man sich als großes, grünes, einförmiges All-over vorstellen: Weite Teile des Geländes sind von Wald bedeckt, bis auf die Überflutungsbereiche der Talböden, im Fels oder in den alpinen Rasen zeigen sich freie Stellen. Es waren erst die Menschen, die die Alpen zu einem Lebensraum mit kleinteiligen Strukturen und einer großen wirtschaftlichen, kulturellen Heterogenität formten. Vor etwa 6000 Jahren beginnen sie sich meist an Schwemmkegeln anzusiedeln, sich mit dem Wasser auf dem Talboden und anderen Naturgewalten zu arrangieren, den alpinen Rasen durch Weidewirtschaft auszudehnen, neben der Landwirtschaft auch Wertschöpfung aus Bergbau und Industrie zu beziehen. All diese Entwicklungen sind in einem Landschaftsbild sichtbar, das oft fälschlicherweise als natürliches Idyll verstanden wird.

Das Bild der Alpen ist meist romantisch überzeichnet: Doch nicht die Wildnis erzeugt die Vielfalt dieses Raumes, sondern der gestaltende Eingriff des Menschen über Jahrtausende hinweg. Das uns vertraute Alpenbild ist ein Kulturprodukt aus kleinräumiger Nutzung, ständiger Landschaftspflege oder Ausweichen von Gefahren. Auch die Annahme einer homogenen, von Monaco bis Slowenien reichenden Alpinkultur ist bloß ein Konstrukt, die Gemeinsamkeiten ortet Bätzing profund auf einer Metaebene.

Sehr klar, sehr kompakt und durchaus polemisch arbeitet der Geograf die problematischen Punkte in der Diskussion um eine europäische Großregion heraus und denkt Entwicklungen zu ihrem mitunter destaströsen Ende. Doch Hoffnung und mögliche Lösungen beschließen diese beeindruckende Streitschrift. Bätzings Stimme hat großes Gewicht bei dem Thema, und seine Thesen, Utopien und Vorschläge sind das Resultat enormer Tiefensicht der Materie. Dieser kann man sich übrigens auch in dem neu aufgelegten, überarbeiteten Basiswerk „Die Alpen“ versichern. Diese Grundlage über die „Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft“ (C. H. Beck Verlag, München) liefert dichten Informationsgehalt und hohen Erkenntnisgewinn zur Streitschrift hinzu. ■

Werner Bätzing

Zwischen Wildnis und Freizeitpark

Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen. 150 S., brosch., €10,20 (Rotpunktverlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2015)

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