Schade und egal

Das ist wohl der Trick von Judith Hermanns Prosa: Sie liefert unverbindliche Stichwörter, und jeder setzt sich nach Belieben seine Bilder daraus zusammen. „Alice“ – eine Art Lego-Literatur.

Romane in diversen Erzählungen scheinen en vogue zu sein. Wirklich neu ist das literarische Konzept, Geschichten ineinander zu verschachteln, indem man Teile des Personals von einer Story in die andere mitnimmt, nicht. Das hat im 19.Jahrhundert schon Gottfried Keller in seinem Zyklus „Die Leute von Seldwyla“ meisterhaft angewendet, das hat in gewisser Weise Heimito von Doderer gemacht, als er etliche Figuren aus der „Strudlhofstiege“ in die „Dämonen“ transferierte, und das hat in diesem Jahr mit „Ruhm“, Daniel Kehlmanns Roman in neun Erzählungen, die Mitte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zurückerobert.

Apropos Kehlmann: Von Judith Hermanns Prosadebüt aus dem Jahre 1998, „Sommerhaus, später“, wurde zwar nur etwa ein Sechstel so viel verkauft wie von Kehlmanns „Vermessung der Welt“, aber sie hat damit etwas anderes, literaturgeschichtlich Entscheidenderes, erreicht: Sie hat damit einen Stil begründet, den „Berliner Jugendstil“. Und sie ist als Autorin zum Archetyp des-sen geworden, was eine Zeit lang das Frauenbild des deutschen Feuilletons prägte: zum „Fräuleinwunder“. Das hatte natürlich mehr mit dem ätherischen-melancholischen Aussehen der 1970 geborenen Berlinerin zu tun als mit ihrer Literatur. Ernüchtert zeigte sich die Kritik deshalb nach ihrem zweiten Erzählungsband, „Nichts als Gespenster“. Das ist nun sechs Jahre her, Judith Hermann inzwischen Mutter eines Sohnes und fast 40. Der Erfolg von damals wurde ihr aber nicht vergessen; ein neues Buch von ihr ist deshalb für den Literaturbetrieb ein Ereignis.

Gemeinsam ist den beiden neuen Büchern von Kehlmann und Hermann die eingangs beschriebene Poetik. Doch anders als Kehlmann thematisiert Judith Hermann in ihrer neuen Prosa nicht den Ruhm, obwohl sie seinerzeit unter seiner Last in mehreren Interviews geseufzt hat. Sie schreitet das, was vergänglich ist, gleich ganz ab und beschäftigt sich mit dem Tod. Er und die titelgebende Figur, „Alice“, sind das Verbindende der fünf Geschichten. „Der Tod und das Mädchen“ könnte man das Buch nennen, wäre das nicht einerseits zu romantisch und andererseits zu politisch. Beides ist diese Prosa nämlich nicht.

Alice, das etwas ältliche Mädchen, ist sogar ein richtiger Todesengel. Wann immer sie auftaucht, stirbt jemand, oder es wird an einen Toten erinnert. „Micha“, Conrad“, Richard“, „Malte“ und „Raymond“ heißen die fünf älteren Herren, denen jeweils eine Story gewidmet ist. Zwei davon sterben gegen Ende der Geschichten, zwei sind bereits zu Beginn tot, und einer wirkt, Jahrzehnte nach dem Selbstmord seines Geliebten, äußerst lebensmüde. Fünf Todesfälle also und keine Hochzeit weit und breit.

Die stimmungsschwere Beschreibung der Flüchtigkeit und des Ennui im Leben jugendlicher Großstädter haben Judith Hermann berühmt gemacht. Hier weitet sie diese Eigenschaften nun in die saumselige Schilderung der Vergänglichkeit des Lebens. Das wiederum ist nichts weniger als neu, ist der Tod doch das Thema der Literatur schlechthin. Doch Hermanns „Todesarten-Projekt“ ist diametral verschieden etwa von jenem Ingeborg Bachmanns. Sie treibt nicht der Canettische Impetus des Kampfes gegen den Tod an. Für sie hat der Tod nichts Tragisches, schon gar nichts Heroisches. Man stirbt nicht mehr für etwas, sondern weil es sich so ergibt. Das ist vielleicht das Neue an ihrer Literatur: Sie hat dem Tod jegliche Transzendenz ausgetrieben. Der Tod hat bei ihr genauso wenig Sinn wie das Leben. Alles versinkt in Banalität.

Wie Farbtupfer auf Gemälden

Und so erfährt man auch nicht viel von den fünf Männern, mit deren Namen die Geschichten überschrieben sind. Der erste war einst ein Liebhaber von Alice, Conrad ist ein väterlicher Freund, dessen plötzliches Sterben an jenes des Literaturkritikers Reinhard Baumgart erinnert, der dritte ist der Mann einer Freundin, derjenige, der sich umgebracht hat, war ihr Onkel; erst der letzte, Raymond, war ihr eigener Mann. Doch selbst er bleibt seltsam konturlos. Konkret sind in diesen Geschichten nur Gegenstände, die evozierend eingesetzt werden. „Zugwind, Duft der Petersilie, eine Plastikwanne mit schimmernden Limonenscheiben in einem Bett aus Eis, Salatköpfe auf dem nassen Holzbrett, Weintrauben, Bananen, Honigmelonen. Wischlappen, Kanister voller Öl, riesige Gläser mit Honig, Zuber und Töpfe.“ So liest man's in der letzten Story.

Hingepinselte Sätze, wie Farbtupfer auf impressionistischen Gemälden, die Assoziationen auslösen (sollen), und zwar je nach Erfahrung bei jedem andere. Das ist wohl der Trick von Judith Hermanns Prosa: Jeder kann sich mit diesen hingeworfenen Bausteinen seine eigene Welt erschaffen. Sie liefert die unverbindlichen Stichwörter, und jeder setzt sich nach Belieben seine Bilder daraus zusammen. Lego-Literatur.

Vielleicht ist gerade deshalb die letzte Geschichte die typischste. Da findet Alice in einer Jacke ihres verstorbenen Mannes den Rest eines „Mandelhörnchens“, einer Backware, die „schon fast versteinert“ war. Allein mit dem Wort erzeugt sie eine nostalgische, sentimentale Stimmung. Und verstärkt diese, wenn Alice nicht in der Lage ist, das angebissene Mandelhörnchen wegzuwerfen: „Erst finden, dann verstehen, dann wegwerfen. Abstand gewinnen. Mach in Ruhe.“ Solcherart werden Gegenstände mit Bedeutung aufgeladen. Einer Bedeutung, die der Tod und das Leben in diesem Buch nicht haben. Und das ist vielleicht auch das Gefährliche an dieser Literatur.

Judith Hermann ist eine Meisterin des Atmosphärischen. Ihre Figuren kreisen zeit- und ortlos durch das All. „Astronauten, dachte Alice, wir sind wie Astronauten, es gibt nirgends Halt.“ Nur selten fallen die Menschen aus ihrem Firmament herunter ins Irdische. Dann allerdings ist es ein Rückfall ins Tierische: „Der Rest war zornig und wüst, heruntergekommen.“ Das ist jedoch ebenso bedeutungslos wie die Tatsache, dass Conrad vor seinem Tod Alice' Freundin Anna, mit der sie sich den Liebhaber teilt, nicht mehr kennengelernt hatte, „was schade war und vollständig egal“. Wird deshalb so oft danach gefragt, ob eine Sache etwas zu bedeuten habe und wenn ja, was?

Das Vorgaukeln von Ewigkeit und die „imaginierten Empfindungen“ sind das Faszinierende an dieser Prosa, zugleich aber auch das Erschreckende. Sind wir dem Leben tatsächlich schon so weit entrückt? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.