Auf dem Elefanten Richtung Wien

Sufis, Harems, religiöse Eiferer: Rund um Jahan, einen Schüler des genialen Baumeisters Sinan, entwirft die türkische Autorin Elif Shafak ein prächtiges Gemälde der Blütezeit des Osmanischen Reichs.

Elif Shafak ist die international bekannteste türkische Schriftstellerin und wohl auch die am häufigsten gelesene. Geboren 1971 in Straßburg als Tochter einer Diplomatin, wuchs sie unter anderem in Madrid und Amman auf, promovierte in Ankara im Fach Politikwissenschaft, arbeitete an der Universität von Arizona und forscht nun an der Kingston Universität in London.

Ihr Werk, das sowohl auf Englisch als auch auf Türkisch geschriebene Romane und Erzählungen enthält, umfasst schon jetzt Tausende Seiten, und es gibt kaum ein Problem der türkischen beziehungsweise der islamisch sozialisierten Gesellschaft, das sie nicht schon in einem Roman zum Thema gemacht hätte. Sei es das problematische Verhältnis zu den Armeniern in „Der Bastard von Istanbul“, das patriarchale Verhalten türkischer Männer bis hin zum Ehrenmord in „Ehre“ oder die Schwierigkeiten mit dem heterodoxen Wesen der Sufis in „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“. Jetzt ist Shafak den auch in heutigen Regierungskreisen um sich greifenden neuen Osmanismus angegangen, indem sie einen Abriss der Blütezeit des Osmanischen Reiches zu einem mitunter auch kritischen Roman verarbeitet hat.

Shafak folgt damit einem Trend, der sich schon seit über einem Jahrzehnt in der türkischen Literatur abzeichnet. Was zu erwarten war. Hatten doch Ge- und Verbote des Republikgründers in den 1920er-Jahren die Türken über Nacht von der arabischen Schrift „befreit“ und an ihrer Stelle das lateinische Alphabet eingeführt. Das hieß vor allem, dass ein Großteil der Bevölkerung, vordringlich junge Leute, von ihrem literarischen Erbe getrennt wurden. Hinzu kam eine rigorose Türkisierung der Sprache. Mithilfe von Stammwörtern und bedeutungstragenden Suffixen erstellte man eine Menge neuen Vokabulars. Viele der so erstellten Wörter erfüllten jedoch die an sie gestellten Anforderungen nicht oder nur schlecht (ihr Bedeutungsradius war viel enger als der der Wörter und Begriffe, die sie ersetzen sollten), und so war es nur eine Frage der Zeit, dass sich vor allem die Literatur wieder so einiges vom Aussortierten zurückholte.

Dass parallel dazu auch die Geschichte des Osmanischen Reiches, die in der Ära Atatürks und seiner unmittelbaren Erben nicht so hoch im Kurs stand, wieder auf vermehrtes Interesse stieß, manifestierte sich in einer Reihe populärer Fernsehserien (die sich im ganzen Nahen Osten großer Beliebtheit erfreuten), aber auch zuvor schon in einzelnen großartigen Romanen wie zum Beispiel „Der Eroberer“ von Nedim Gürsel oder „Rot ist mein Name“ von Orhan Pamuk. Nun gibt es auch den Roman von Elif Shafak „Der Architekt des Sultans“, der 2014 unter dem englischen Titel „The Architect's Apprentice“ erschienen ist. Warum man im Deutschen eine andere Gewichtung vorgenommen hat, ist ein Rätsel, denn die Hauptfigur ist und bleibt Jahan, der vermeintliche Inder, Mahut eines weißen Elefanten und Lehrling des genialen Baumeisters Sinan.

Jahan, der auf verschlungenen, um nicht zu sagen krummen Wegen in die Palastmenagerie einzieht, verbringt dort sein ganzes Leben, bis er unverhofft vom Schicksal einen Nachschlag bekommt, und zwar genau dort, wohin schon Orhan Pamuk in dem bereits erwähnten Roman seine Miniaturenmaler schickte, die der zunehmenden Bigotterie wegen in Istanbul nicht mehr sicher waren, nämlich an den Hof der Mogulkaiser im Norden Indiens.

Jahan hatte das Glück, aber auch das Zeug dazu, einer der vier Schüler (Anspielung auf die vier Buchreligionen Judentum, Christentum, Zoroastrismus und zu aller Erst natürlich der Islam) des größten Moscheenbauers aller Zeiten zu werden, und mit seinem Elefanten nicht nur als Brückenbauer an zwei Feldzügen in Richtung „Goldener Apfel“ (sprich: Wien) teilzunehmen, sondern auch an allen anderen Großprojekten des Architekten mitarbeiten zu dürfen. An der Figur Jahans hat Shafak die Epoche von Mitte des 16. bis Anfang des 17. Jahrhunderts (unter den Sultanen Süleyman der Prächtige, Selim II. der Säufer und Murad III.) festgemacht.

Ihr Erzählen wird immer punktueller, wobei die Figuren manchmal unter der Bürde der ihnen zugeteilten Schicksale sozusagen in die Knie gehen. Je mehr sich der Roman auf die Vielfalt historischer Details einlässt, desto miniaturenhafter wirken die einzelnen Kapitel. Schließlich soll all das Exotische, das man im Westen, aber auch als eines mit der Geschichte des eigenen Landes nicht allzu vertrauten Bürgers nur vom Hörensagen kennt, für den interessierten Leser aufbereitet werden. Etwa das Narrativ vom Vielvölkerstaat (dabei kommt auch den Roma eine wichtige Rolle zu), die Prinzenmorde samt dem Harem und dessen politisch hochaktiven Eunuchen, aber auch die Aufmüpfigkeit der Sufis und Derwische sowie die wiederkehrenden Ausbrüche von Fundamentalismus im Gefolge der Pest, der großflächigen Brände und nicht zuletzt die Zerstörung des von Sinan erbauten Observatoriums, das auf Wunsch religiöser Eiferer wieder zerstört werden musste.

Das Genie Sinan, literarisch kaum gestaltet, bleibt dabei in großer Distanz zum Leser, auch wenn viel von ihm die Rede ist, und sein Schüler Jahan fungiert durchgehend als Geschichts- und Geschichtenträger, selbst dann, wenn er sich in Süleymans Tochter, Prinzessin Mihrimah (für die Sinan ebenfalls eine Moschee errichtete) genauso hoffnungslos wie unsterblich verliebt.

Dass Jahan bei der Aufteilung des Sinanschen Erbes leer ausgeht (eigentlich sollte er der Nachfolger werden), hat er den üblichen Palastintrigen und einem anderen der vier approbierten Schüler zu verdanken, der, als ihm Jahan auf die Schliche kommt, seinen Betrug mit den als Kind erlebten Kriegsgräueln rechtfertigt, denen seine Eltern zusammen mit dem ganzen Dorf zum Opfer gefallen waren, die ihn aber auch, als ein den Ansprüchen der „Knabenlese“ entsprechender Bub nach Istanbul gebracht haben.

Die Rekrutierung gesunder und kräftiger christlicher Knaben erfolgte vor allem auf dem Balkan. Anschließend wurden sie für ein paar Jahre zur Islamisierung und Türkisierung zu Lehensherren nach Anatolien geschickt, um dann nach Istanbul geholt und dort zu Janitscharen (die Leibgarde und persönliche Elitetruppe des Sultans) ausgebildet zu werden. Wobei sie interessanter Weise spirituell von Derwischen des heterodoxen Bektaschi-Ordens betreut wurden.

Leider hat diese Art der Elitenbildung keine Aufnahme in den Roman gefunden, dabei hätte sie uns Sinan um einiges näher gebracht, war er doch selbst durch die „Knabenlese“ zum Janitscharen und als Janitschar (als der er sich im Roman auch bekennt) der Architekt des Sultans geworden.

Dennoch, wer anekdotisches Erzählen in der Absicht, eine Epoche mit ihren vielen Facetten und Widersprüche ins Bild zu setzen, schätzt, wird bei der Lektüre dieses Romans sicher auf seine Rechnung kommen. ■

Elif Shafak

Der Architekt des Sultans

Roman. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. 648 S., geb., €25,60 (Kein & Aber Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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