Undine begräbt ihre Träume in Schächtelchen

„Nausikaa oder Die gefrorenen Wellen“: Rüdiger Görners melancholische Spaziergänge durch eine verloren gegangene Welt.

Narrative Texte spielen für gewöhnlich auf mehreren Zeitebenen. Rüdiger Görners Debütroman, „Nausikaa“, ist dabei ein besonders interessantes Exemplar. Zunächst ist die Handlung im Deutschland und im England der späten 1930er-Jahre angesiedelt. Ort der Handlung ist insbesondere das London der Zwischenkriegszeit samt seinem Umland, Gentry, einem Hauch von Bloomsbury, Bürgerlichkeit und einem Anflug von proletarischer Armut. Dass auch die Gegenwart zeitlich mit im Spiel ist, wird spätestens dann sichtbar, wenn Flüchtlinge und weiblicher Eigensinn Thema werden. In den nostalgischen Beschreibungen des imperialen Londons ist noch eine zeitlich vorgelagerte historische Schicht präsent, auch sprachlich: Erzählt wird in einem präzisen, langsamen „impressionistischen“ Sprachduktus mit Verweisen auf Literatur, Musik, britische Lebensart, bildende Kunst – melancholische Spaziergänge durch eine verloren gegangene Welt.

Tragend und dicht ist die Eingangsszene, in der eine weiß gekleidete, traumwandlerisch abwesende, aus den Untiefen der Romantik entstiegene Frau namens Chrysothemis in einem sonntagmorgendlichen Park ihre Träume in kleinen Schächtelchen begräbt, beobachtet von einer anderen, die alsbald ins Zentrum des Geschehens rücken wird. In der zarten narrativen Gestik liegt zweifelsohne eine der Stärken des Romans. Solche Tableaus finden sich stets an zentralen Wegmarken im Roman, in der Anfangsszene, beim Treffen der Protagonistin mit einem amerikanischen Kunsthistoriker, in den überaus gelungenen Szenen einer gefährdeten Jugend in Deutschland. Einfühlsam skizziert der Roman zudem die Geschichte einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in der süddeutschen Kleinstadt Lindau, die übrigens altdeutscher anmutet als bei Martin Walser. Er legt die Mechanismen frei, die junge Menschen ebenso zu glühenden Anhängern der „braunen Umtriebe“ machen wie deren Lehrer, die am Ende den jüdischen Schuldirektor mithilfe des Nationalsozialismus ausmanövrieren.

Überaus versiert werden mehrere Handlungsstränge parallel geführt, bis sie sich später überkreuzen, so dass sich Mann und Frau, Emigrant und Einheimische, Lindau und London treffen. Ein ungleiches Paar steht im Zentrum der Handlung: Jean Prosser, ein blutjunger Emigrant aus Deutschland, und Florence Wright, eine Frau aus kleinen Verhältnissen, die sich als Designerin durchschlägt. Dank der Technik der erlebten Rede befinden wir uns über weite Strecken in ihrer Stimmungs- und Gedankenwelt. Ein unsichtbarer und ortskundiger Erzähler begleitet die junge Frau durch London oder die Isle of Wight. Das Besondere an dieser modernen, der antiken unähnlichen Nausikaa ist, dass sie sich nicht zu einem Ganzen fügt. Ein Hauch des Todes umgibt die zumeist in elegantes Schwarz gehüllte Frau, eine empfindsame Seele, die in einen zu breiten Körper geraten ist und mit ihrer großen Nase hadert. Zuweilen erweist sich diese Frau, die mit der Fee im Park eine gewisse Verlorenheit teilt, als schlagfertig und ist doch zugleich ungemein schüchtern. Wie ihr männliches Pendant aus Lindau steht sie in einem tragikomischen Verhältnis zu ihrer Umwelt. Obschon in ihrem beruflichen Leben durchaus realitätstüchtig, ist sie verhalten auf die Welt gekommen; in der Welt, in der sie lebt, wird sie nicht heimisch: Das Bild der gefrorenen Wellen steht für eine melancholische Erstarrung, die Tempus und Atmosphäre des ganzen Romans bestimmt.

Die Missgeschicke der beiden Hauptfiguren mit dem jeweils anderen Geschlecht sind slapstickhaft. Immer wieder sieht sich der junge Mann von sexuell aktiven Frauen bedrängt, während Florence eine laue Beziehung mit einem Bankmenschen unterhält und penibel darauf achtet, nicht das Hotelzimmer mit ihm zu teilen. Bevor sie Jean kennenlernt, gerät sie an eine lesbische Frau und einen schwulen Mann. Mit Jean und Florence treffen zwar ähnliche Seelenlagen aufeinander, aber daraus entsteht keine lebendige Beziehung. Das zeichnet sich schon in der ersten gemeinsamen Szene ab, wenn Jean die Mumiensammlung des British Museum als Treffpunkt vorschlägt. Eine Furie des Verschwindens bestimmt die narrative Struktur des Romans, die am Ende beide Hauptfiguren mitsamt der geheimnisvollen weißen Fee aus dem Roman katapultiert.

Was bleibt, sind die Bilder, die den Tod überdauern. Ein ungewöhnlicher, trotz seines Faibles für ästhetisches „Design“ altmodischer Roman. ■

Rüdiger Görner

Nausikaa oder Die gefrorenen Wellen

Roman. 306 S., geb., €22 (Sonderzahl Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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