Die Angstsaat

Fremdheit hier wie dort, Leben in zwei Sprachen, Österreich als Land der „Ibermenschen“, Kindheit als Überforderung. „Die Farbe des Granatapfels“: der Debütroman der 1973 in Zagreb geborenen und in Klagenfurt lebenden Anna Baar.

Mit der jährlich wachsenden Zahl an Debütromanen steigt unerbittlich der Vorrat an„Coming of Age“-Geschichten. Kindheit und Jugend muss schließlich jeder durchleben, und mit den Augen Heranwachsender sieht die Welt immer bedeutsam, unermesslich und spannend aus. Außerdem geht es dabei selten ohne seelische Wunden und schmerzhafte Enttäuschungen ab, daraus kann ein unterschiedlicher Mix an mehr individualisierter oder ins Gesellschaftspolitische geweiteter Anklage werden. An diesem schweren Erbe muss sich jede neue Kindheitsgeschichte abarbeiten. Um das Interesse der Leserschaft zu wecken, sind lebenshistorische Alleinstellungsmerkmale nützlich. In den jüngsten Buchsaisonenwaren das, analog zu den öffentlichen Debatten, häufig Formen von Kindesmissbrauch. Die Zunahme an NachwuchsautorInnen mit migrantischem Hintergrund eröffnet hier andere Optionen.

So auch im Debütroman „Die Farbe des Granatapfels“ der 1973 in Zagreb geborenen und in Klagenfurt lebenden Autorin Anna Baar. Ihre Erzählerin Anna wächst in zwei Welten auf: Die Sommer verbringt sie bei Großmutter Nada auf einer kroatischen Insel oder in deren Zagreber Wohnung, den Rest des Jahres bei ihrer wohlhabenden Familie im „Vaterland“ Österreich. Dieser Teil ihres Lebens bleibt schemenhaft: der Vater Pianist, die Mutter Ärztin, ein jüngerer Bruder, die Qualen des Klavierunterrichts und die als „Trauergeleit“ und „Angstgeleit“ erlebten häufigen Übersiedlungen der Familie.

Im Zentrum des Buches steht die monumental gezeichnete Figur der kettenrauchenden Großmutter, einer alten Partisanin und leidenschaftlichen Antifaschistin, stark und egoman, selbstherrlich und das Enkelkind mit ihrer abgöttischen Liebe fortwährend erpressend und überfordernd. Sehnsucht nach der Mutter oder gar nach Österreich, dem Land der „Ibermenschen“, wird als Untreue geahndet, deutsche Worte oder Lektüren sind verpönt. Aus der Sicht des Kindes zwingt Nada, „eine Zorngängerin von unstillbarer Lebensgier“, die kleine Anna erbarmungslos unter ihr Regiment, und das ist vergiftet von den Prägungen der Kriegsgeneration. Dazu gehört bei Nada ein verbiesterter Sparzwang ebenso wie die Obsession für gekämmte Teppichfransen, und derartige Manien tendieren bekanntlich dazu, sich im Alter zu verstärken.

So will es zumindest den größten Teil des Romans über scheinen, der diese Kindheit als eine einzige Leidensgeschichte schildert. Die kleine Anna leidet an der Dominanz der Großmutter, an der Fremdheit hier wie dort, am Leben in zwei Sprachen, an der Überforderung mit dem radikalen Hass Nadas gegen alles Österreichische, am Gefühl, hier den Vater, dort die Großmutter zu verraten, und vor allem an Nadas übergroßer Ängstlichkeit in Bezug auf ihre Enkelin. Noch die erwachsene Anna ist überzeugt, dass Nadas „Angstsaat“ in ihr aufgegangen ist und sie deshalb „bis zum Rand abgefüllt“ ist „mit ihrer Heidenangst“, die sie lähmt „wie ein schweres Gift“. Von daher erklärt sich auch der Erzählrahmen von den Mutproben der Kinder an der Bahnlinie hinter dem Haus. Und Anna leidet auch daran, kein Bub zu sein, was bei den starken Frauenfiguren ihrer Kindheit doch überrascht. Die Verstörung über die pubertären Veränderungen des Körpers fehlt ebenso wenig wie die erste Menstruation. Als Nada ihr ein erstes Kleid schneidert, bleibt Anna trotzig sitzen, als ihr die Großmutter „in immer borstigeren Gesten die verhasste Verkleidung vor den Latz“ halten will.

Auch wenn ein Juror beim diesjährigen Wettlesen in Klagenfurt die sprachlich„präzise“ Beschreibung dieser Insel-Kindheit hervorhob, irritiert doch die Dichte an solchen Sprachbildern, die überinstrumentiert wirken und oft idiomatisch verrutschen. Da „wälzt“ die Bora die Schiffe „in die Schlünde der Wasserwirbel“, der Durchlauferhitzer ist ein „fauchender Dämon, der alle Furchten zu bewahrheiten drohte“, und der ausgetrocknete Garten „ein verödendes Lustgefilde welkender Blüten“. Im Gespräch mit Nada „würgt“ die schon erwachsene Erzählerin einen „Satz schnell in die Fressscharte“ und „glitscht“ doch immer wieder in deren „Fallstricke“, denn „Nada klatschte mich auf, wo sie konnte“.

Wenn Mutter und Tochter über Nadas einstige Affäre mit einem Admiral tuscheln, tun sie es heimlich, um die Großmutter „nicht zu behelligen in ihrem Andenken an die Admiralsflechse, die in drei Minuten dreißig-, vierzigmal in ihrem Muttermund aufsalutierte, bis die Gischt die Welt um sie auswusch“. Während Nada stets „das geschwürige Innenfutter ihrer Seele lärmend nach außen“ kehrte, reagiert der Vater nur unwirsch, „wenn man ihm gegen den Strich ging“, und vom häufigen Wechsel der Kindermädchen nahm die kleine Anna nur wahr, „dass sich alle paar Monate ein neuer Arsch wie eine Rechenschieberkugel an der Küchenzeile hin und her bewegte“. Solche Erinnerungsbilder lassen im Übrigen vermuten, dass Anna weit mehr als Nadas „Heidenangst“ deren Neigung zu Selbstüberhebung und Menschenverachtung verinnerlicht hat.

Gegen das letzte Drittel zu – aus dem auch die in Klagenfurt gelesenen Auszüge stammten – gewinnt der Roman an Empathie, auch an thematischer Breite, und die sprachlichen Manieriertheiten werden zurückgenommen. Es geht um Fremdheit und verschiedene Sprachwelten, auch mit Blick auf die als alte Männer heimkehrenden „Gastarbeiter“, andere Familienmitglieder kommen in den Blick und gegen Ende hin die Lebensgeschichte Nadas. Nun versucht die erwachsene Anna der hochbetagten Frau doch noch zuzuhören – und nicht nur sich selbst zu bedauern, „weil sie mir ihr Leid antut“ und Anna damit zu einer „Nachgeborenen“ macht, „mit einer Vergangenheit am Hals, die nicht die meine ist, mit Bildern, die ich nicht will“.

Als die alte Nada eines Sommers nicht mehr auf die Insel kommen kann, beginnt Anna ihre Erinnerungsspuren zu suchen, die jetzt auch ganz anders aussehen: Es kommt eine liebevolle Großmutter zum Vorschein, eine fürsorgende und eine, die mit den Kindern ausgelassen herumtollte. Auch ein Notizbuch findet Anna „mit Sprichwörtern und Leitsätzen“ – eigentlich sind es Aphorismen –, „um Eindruck zu schinden“. Diese Interpretation kehrt zurück zu Annas Großmutterbild als einer Frau, der es stets darum ging, sich „aufzuspielen“.

Was man die ganze Zeit erwartet, kommt hingegen nur äußerst peripher vor: die Jugoslawien-Kriege und ihre Folgen. „Doch wer den Bruder verflucht, kommt nicht in den Himmel“, hatte man einst der kleinen Anna gesagt. Das lässt sich politisch deuten, doch dafür interessiert sich die Erzählerin kaum – und Nada mit ihren politischen Überzeugungen des untergegangenen Jugoslawien ist leider schon zu alt, um ihre scharfzüngigen Kommentare abzugeben. ■

Anna Baar

Die Farbe des Granatapfels

Roman. 330S., geb., € 20,50 (Wallstein Verlag, Göttingen)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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