Arbeit am Kuss, stundenlang

Patricia Brooks schrieb eine meisterhafte Paarstudie.

Der namenlose Ich-Erzähler ist „Ende dreißig“, sozusagen im besten Mannesalter, und dennoch verlässt ihn seine Partnerin Silvie mehr oder weniger ohne großes Ankündigungs- oder Abschiedsritual. „Mit einem Mal wird mir klar, dass da eben etwas geschehen ist. Wahrscheinlich hat jede Beziehung ein Ablaufdatum, an dem ihr inneres Feuer allmählich zu einer Notbeleuchtung herunterbrennt.“ Vermutlich hat der Verlassene, der auf die „Umsetzung von komplexen Internet-Applikationen spezialisiert ist“, also Software-Programme schreibt, einfach zu viel Zeit in der digitalen und zu wenig in der Welt mit seiner Freundin verbracht.

Nach Silvies Abgang wird er in eine Reihe merkwürdiger Ereignisse hineingezogen, die ihn immer tiefer in einen Zustand der Erschöpfung treiben. Die Ex-Freundin fliegt indes aus beruflichen Gründen nach New York, naturgemäß nicht ohne fremde männliche Begleitung. Ein wohlhabender und Golf spielender Zahnarzt hat es ihr angetan. Der Ich-Erzähler dagegen zieht sich in das Salzkammergut zurück, wo er in Ruhe ein Computerspiel programmieren will und unter rätselhaften Umständen eine attraktive Tänzerin kennenlernt, die sich in ihn verliebt.

„Alles ist aus den Fugen geraten.“ Es reiht sich Merkwürdigkeit an Merkwürdigkeit. Dinge verschwinden spurlos. Verlorenes taucht auf. Geführte Gespräche scheinen nie stattgefunden zu haben. Die Tänzerin wird von einem mysteriösen Fremden verfolgt. Und das Computerspiel hat einen unerklärlichen Steuerungsfehler, der sich trotz intensiver Bemühungen nicht korrigieren lässt.

In der „Grammatik der Zeit“ spielt das Zeitgefüge scheinbar verrückt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschieben sich, zumindest für den Ich-Erzähler, nicht aber für die Leserin und den Leser, zumal Patricia Brooks die Architektur der Zeitebenen meisterinnenhaft beherrscht, wie in diesem Buch schlechthin alles stimmt, nämlich die Erzählung, deren Sprache, die Charakterisierung der Figuren und sogar die mit Distanz geschilderte Erotik.

„Nicht der beste Sex“

Der Beziehungsroman ist mitten aus demLeben geschrieben, authentisch und nachvollziehbar. Viele Paarthemen werden angesprochen, der Kinderwunsch, die Untreue, der Verrat und die „unterschiedlichen Erfahrungen damit“, das Scheidungsverfahren, das viel zu lang dauert, das japanische Lokal, das nicht gefällt, sogar „ein Hauch von chemischer Putzerei steigt in die Nase“, der Alltag eines Paares, das nicht mehr miteinander kann.

Patricia Brooks ist eine absolute Beobachterin, die gekonnt und genau schildert. Die Art, wie sie mit der Sprache umgeht, hat durchaus etwas Lustvolles an sich, nicht nur, wenn sie festhält: „Mit jemandem das erste Mal zu schlafen, ist sicher nicht der beste Sex.“ Das Buch ist nicht zuletzt eine exakte psychologische Studie des Auseinanderlebens und Verlassenwerdens. Ein Handbuch aus der heutigen Zeit der Lebensabschnittspartnerschaften, in die meist ein Dritter oder eine Dritte einbrechen. Davor aber „konnten wir uns stundenlang küssen, bis unser Kinn rot und wund war, ohne dass wir genug bekamen“.

Die Wendung, die der Roman auf den letzten Seiten nimmt, ist mehr als überraschend, klingt gleichsam nach Happy End und ist dennoch glaubwürdig beziehungsweise überzeugend.

Patricia Brooks ist eine große österreichische Schriftstellerin. ■

Patricia Brooks

Die Grammatik der Zeit

Roman. 274 S., geb., €19,90 (Wortreich Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.