Das verflixte siebte Jahr

Insel ohne Technik und Mensch mit Natur: Margit Schreiners großartiger neuer Roman, „Das menschliche Gleichgewicht“, verhandelt Grundsätzliches.

Margit Schreiner

Das menschliche Gleichgewicht

Roman. 240 S., geb., € 20,60 (Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main)

Eine einsame Insel, irgendwo in Kroatien, einen ganzen September lang, und das im verflixten siebten Jahr. Das ist das Setting in Margit Schreiners aktuellem Roman „Das menschliche Gleichgewicht“. Schreiner ist bekannt für ihre Bücher, die oft von Authentischem ausgehen, sie thematisiert die literarische Gretchenfrage immer wieder auch selbst: „Es hat Zeiten gegeben, da habe ich alle Schriftsteller beneidet, die ihre Existenz hinter Erfundenem verbergen konnten. Hinter Strukturen, komplizierten Handlungsgebäuden, Geschichten. Das ist längst vorbei. Die Muster, die wir erkennen, sind immer die Muster, die wir bereits gesucht haben.“

Dennoch hat man nie den Eindruck, Autobiografisches zu lesen. Das liegt an der Meisterschaft der Autorin, Fiction, Faction und Erlebtes in ein Ganzes zu gießen, das diese Frage obsolet macht. Ihre Sprache ist kristallklar und tiefgründig, keine Schnörkel oder üppige Metaphern verstellen den Blick auf das Wesentliche. Und das Wesentliche ist der Mensch und seine Unzulänglichkeiten, sein Agieren in der Natur und die Beziehungen, die er eingeht. Handlung im herkömmlichen Sinn ist, wie immer bei Schreiner, nebensächlich.

Aufgebaut ist der Roman wie ein Logbuch, jeder Tag ein Eintrag, nur die Anfangstage und die letzten Tage sind zusammengefasst, weil da die Zeit wieder an Tempo aufnimmt; vor allem die Tage vor der Abreise gehorchen bereits einer anderen Logik, man ist in Gedanken schon zu Hause, muss das Zusammenpacken organisieren.

Der Sehnsuchtsort Einsame Insel ist jedoch in die Krise gekommen, oder besser gesagt, die Inselurlauber sind in die Krise gekommen; der anfängliche Vorsatz der beiden Familien, möglichst unkompliziert auf der Insel zu leben, in vollständiger Ruhe und Abgeschiedenheit – es gibt weder Strom noch fließendes Wasser –, ist im Lauf der Jahre immer durchlässiger geworden, das Reisegepäck dementsprechend umfangreicher. Das Bedürfnis, auch in der Natur nicht auf Bequemlichkeit zu verzichten, steigt mit den Jahren. Sogar Solarpaneele werden seit Neuestem mitgenommen, um Strom für diverse Elektrogeräte zu erzeugen (Laptop, Handy, Fön und Mixer), denn „die Einfachheit des Lebens auf der technikfreien Insel ist die eine Sache, Bequemlichkeit, sportliche Betätigung und zeitgemäße Arbeitsbedingungen die andere“. Dass der Mensch „von Natur aus ungeeignet für die Natur“ ist, demonstriert Schreiner auf ihre gewohnt lakonisch-witzige Art. Die Insel, auf der sich „angeblich schon während des Neolithikums Menschen aufgehalten haben sollen“, wird zum vorübergehenden Zweitwohnsitz der Städter, die glauben, ohne ihren beweglichen Hausrat nicht auszukommen: Menschen und Material sind nun endlich per Boot an dem Sehnsuchtsort abgeladen, der Alltag bleibt zurück, die Herrschaft des Chronos, des Gottes des unaufhaltsamen Zeitablaufs, wird schwächer zugunsten des Kairos, des anarchistischen Moments, der an keine Zeiteinheit gebunden ist.

Man könnte zu schreiben beginnen. Aber auch das funktioniert naturgemäß nicht reibungslos, zu groß sind die Ablenkungen, etwa durch einen von der Decke auf den Laptop fallenden Gecko, eine schwarz-gelb gestreifte Spinne muss beobachtet werden, und auch vorbeischwimmende Delfine wollen bewundert sein. Wer denkt da noch an das Schreiben? Lieber mit den Kindern auf der Terrasse „Mensch ärgere Dich nicht“ spielen und Wein trinken. Das viele Essen, der starke Alkohol, die frische Luft machen träge, die geplanten zwei Seiten pro Tag werden sich nicht ausgehen, ahnt der Leser. Und tatsächlich: „Kaum hatte ich begonnen, ein paar Zeilen zu schreiben, kreuzte ein Segelboot in unserer Bucht auf.“

Das ist allerdings nichts Neues im Inselalltag, neu auf der Reiseteilnehmerliste ist Sarah, ein junges Mädchen aus Israel, deren Eltern einem schrecklichen Unglück zum Opfer gefallen sind, das erst gegen Ende des Buches aufgeklärt werden kann, nachdem allerlei Minidramen (dieselben wie jedes Jahr – wer macht den Abwasch oder holt Wasser?) durchlebt und allerlei Krisen, auch wahrhaft existenzielle, durchlaufen wurden.

Es braucht nämlich nicht viel, um den naturentwöhnten urbanen Menschen in Gefahr zu bringen („Es darf nichts passieren. Kein Hornissenstich, kein Beinbruch, kein Schlaganfall, kein Herzinfarkt. Niemand darf auf den Hinterkopf fallen oder auf das Gesicht“), der plötzliche Einbruch der Dunkelheit, schlechtes Schuhwerk auf felsigem Untergrund oder ein Sturm, während man in einem kleinen Boot auf dem Meer schaukelt, reichen aus, um Todesängste freizusetzen.

Sarah und ihr Hund, Habib, verändern durch ihre Anwesenheit die Konstellationen zwischen den eingespielten Paaren und deren halbwüchsigen Kindern. Die traumatisierte 17-Jährige, die einige Monate in einer psychiatrischen Abteilung in Jerusalem verbracht hat, in denen sie ein psychiatrisches Tagebuch geführt hat, händigt dieses der Erzählerin aus. Diese Textstücke sind zwischen die einzelnen Inseltage geschoben und bilden einen beklemmenden Gegenpol. Einerseits die trägen und ziellosen Tage in einer archaisch-rauen Landschaft, die nach wildem Rosmarin duftet, in der sich der Anblick des Meeres stündlich ändert und die atemberaubende Sonnenuntergänge bietet, aber letztendlich offenbar nur mit Alkohol zu ertragen ist, andererseits der zermürbende und medikamentenumnebelte Klinikalltag unter Menschen, die aus dem schützenden Netz der Normalität gefallen sind. Auf die Umstände des Unglücks werden chronologisch ungeordnete Schlaglichter aus beiden Ebenen geworfen, das Mosaik lässt sich jedoch nur unwillig zusammensetzen. Sarah selbst hat keine Erinnerung daran, sie war fünfzehn, als es geschehen ist, ihr Gedächtnis hat das Ereignis in den allerletzten Winkel verschoben. Sie hat sich ihre Version der Geschichte aus den damals erschienenen Zeitungsnachrichten zusammengestückelt.

In einem Interview sagte Margit Schreiner einmal, sie möchte nichts durch die Ortswahl vermitteln, sondern die Ortswahl selbst vermittle die Geschichte. Einsame Insel und psychiatrische Klinik sind extreme Topoi, man hat sofort bestimmte Bilder vor Augen, Gerüche in der Nase oder spürt etwas auf der Haut. Dieses individuelle Basiswissen über die Orte setzt individuelle Geschichten in Gang, gleichzeitig gibt es universelle Schnittpunkte, mit denen sich jeder identifizieren kann. Ob diese Orte ein Gleichgewicht herstellen können? Man wünscht es Sarah, deren Zukunft, nachdem die Insel wieder verlassen wurde, ungewiss bleibt. Gewiss ist, sie wird die Traumatherapie abbrechen, sie wird weiterhin die Erinnerung verweigern, sie wird die Klinik „für immer“ verlassen.

Und das verflixte siebte Jahr zeigt wieder einmal, was es kann: „Die Insel betraten wir nie wieder.“ Und auch Margit Schreiner zeigt wieder einmal, was sie kann: nämlich großartige Bücher schreiben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2015)

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