Madonna mit Kippe

Vier junge Menschen suchen im „Swingin' London“ der 1970er-Jahre Glaube, Liebe, Hoffnung: „Jahre wie diese“, Sadie Jones' bittersüßer Roman.

Wenn man von einem Roman sagt, dass er viele gute Seiten hat, fällt man entweder gerade einem akuten Witzanfall zum Opfer oder man hat „Jahre wie diese“ von Sadie Jones gelesen: die aufregende Geschichte von Luke, Paul, Leigh und Nina, vier Theater-verrückten jungen Leuten, die im „Swingin' London“ der 1970er-Jahre aufeinandertreffen, gemeinsam etwas aufbauen, anderes mit Lust zerstören, sich verlieben, trennen und neu finden. „Jahre wie diese“ ist Sadie Jones' vierter Roman und, wie die englischsprachige Kritik meint, ihr bester bisher.

Wer Glück hat im Leben, Mut und offene Augen, der kennt Tage wie diese: gloriose Momente, in denen nicht ein Tüpfelchen anders oder besser sein könnte, als es gerade ist. Tage wie diese sind perfekt, zusätzlich verklärt dadurch, dass man ganz genau weiß, dass sie erstens vergänglich sind, zweitens nicht mehr zu übertrumpfen sein werden und man sich drittens sein ganzes Leben glasklar an sie erinnern wird.

Solche Momente schenkt Sadie Jones allen ihren Protagonisten. Und sie haben sie sich wahrlich verdient. Zum Beispiel Luke Kanowski, französisch-polnischer Abstammung, der sich in seiner heimatlichen Kleinstadt Seston die Traurigkeit von der Seele schreibt, über seine Mutter, die seit Jahren in der Irrenanstalt sitzt, und über seinen Vater, der einfach aufgegeben hat und sich allabendlich in Richtung Besinnungslosigkeit säuft. Oder Leigh Radley, deren Mutter sich von ihrem Ehemann zeternd und weinend am laufenden Band betrügen ließ, ehe sie ihn verließ und ihr angeschlagenes Ich mit einer großen Dosis Feminismus und Egoismus zu heilen versuchte. Paul, unbeachteter mittlerer Sohn einer erfolgsverwöhnten bodenständigen Familie. Und Nina, aufstrebender Stern am Schauspieler-Himmel, vergiftet von den Launen ihrer egomanen Mutter und dem Kontrollwahn ihres sadistischen Ehemanns.

Noch wissen Luke, Leigh und Paul nicht, dass sie gemeinsam mehr sein werden als sie allein jemals sein könnten, als Leighs Mini mit quietschenden Reifen in einer stockfinsteren verregneten Nacht in Seston neben Luke zum Stehen kommt. Doch das Schicksal hat von Anfang an keinen Zweifel daran und sorgt dafür, dass sich die Wege der drei immer wieder kreuzen. Bis sie sich schließlich so weit verzahnen, dass es für eine Ménage à trois reicht. Luke zieht nach London und baut gemeinsam mit Leigh und Paul eine unabhängige Theatertruppe auf. Sie wohnen zusammen, arbeitenzusammen, und alles läuft so gut, wie es in Tagen wie diesen nur laufen kann. Paul und Leigh werden ein Paar. Luke, dessen verkümmertes Herz offenbar zu keinerleiernsthaften Gefühlen fähig ist und der sich nur im sexuellen Akt spürt, legt in der Zwischenzeit alles flach, was willig und weiblich ist.

Doch dann lernt Luke die junge Schauspielerin Nina kennen und verliert sich in einer zerstörerischen Liaison mit ihr. Die ebenso hilflose wie manipulative Nina, verheiratet mit dem dekadenten, machtgeilen Theaterproduzenten Tony, weckt in Luke das Bedürfnis, sie zu retten. Die zentrale Frage des Romans ist, wie weit der junge Schriftsteller gehen wird, um dieses Ziel zu erreichen.

Sadie Jones hat für „Jahre wie diese“ (Originaltitel „Fallout“) im angelsächsischen Raum viel Ruhm eingeheimst. Die 1967 in London geborene Autorin arbeitete jahrelang mit eher mäßigem Erfolg an Drehbüchern, ehe ihr der große Wurf gelang – mit einem Roman: „Der Außenseiter“ (2008) entstand aus einem Filmskript, an dem Jones nach dem Abgabetermin noch weiterschrieb, weil sie fand, „dass noch nicht alles gesagt worden war“, wie sie in einem Interview erklärte.

Diese Penibilität, die Liebe zum Detail und zu den Figuren, ist es auch, was „Jahre wie diese“ zu einem so besonderen Roman macht. Zwar trägt mit Luke ein ganz starker Charakter die Handlung des Buches, allein bestimmend ist er aber nicht. Die Idee des Kollektivs, wie es in den 1970er-Jahren in Londoner Kleinbühnen umgesetzt wurde, gilt auch für das Personal von „Jahre wie diese“. Alle kommen zu Wort und dürfen die Verletzungen herzeigen, die ihnen von den Eltern zugefügt wurden und die sie allesamt schon in jungen Jahren zu Beziehungsneurotikern gemacht haben.

Das gilt auch für Paul, so normal, so beständig, so verlässlich – und dennoch offenbar wild entschlossen, mit Leigh die falsche Frau zu begehren. Liebevoll blickt die Autorin auf ihre verirrten, verwirrten Protagonisten und sichert ihnen damit das Verständnis des Lesers – selbst die schwache Nina, die so gerne gut wäre, aber mit harter Hand darauf konditioniert wurde, dass böse auch nicht schlecht ist. Und manchmal einfach nicht anders kann, als den Finger genau dorthin zu legen, wo es wehtun wird. „Du bist meine Madonna, meine Madonna mit Kippe“, sagt Luke nach einer Liebesnacht zu ihr, halb verliebt und halb verzweifelt.

Sadie Jones schafft es, allen Figuren ihre eigene Sprache zu geben. Der Roman liest sich leicht und locker, und doch wurde jedes Wort mit großer Exaktheit in Dialoge und Beobachtungen eingepasst. Jones ist eine genaue Schreiberin. Die Szene etwa, in der sich Luke und Nina im Gang eines Pubs zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ist eine der stärksten des Romans: In alternierenden kurzen Absätzen lesen wir, wie die beiden einander sehen, atemlos, festgemacht an Details wie den hervorstehenden Adern an einem Handgelenk oder der Mulde eines Brustbeins, mehr gefühlt als betrachtet. Dennoch weiß man am Ende ziemlich genau, wie die beiden aussehen, die einander da gefunden haben, und welche Art von Amour fou ihnen bevorsteht.

Dieses Kino der Gefühle lässt Jones vor dem Hintergrund des London der 1970er-Jahre ablaufen, als die Stadt sozial und wirtschaftlich in Trümmern lag. Die Regierungen, egal ob Labour oder die Konservativen, stolperten von Krise zu Krise, von einem Streik (die Bergarbeiter) zum nächsten (die Müllabfuhr), es gab den Sterling-Zusammenbruch, Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Diese Fakten sind bei Sadie Jones zwar nur der Stoff für Small Talk auf Partys, bilden aber die Kulisse, die wie keine andere zu ihrer Geschichte passt. Immerhin geht es darum, ob und wie man aus Kaputtem Neues aufbauen kann. Immer gibt es ein Vorhaben, zum Beispiel die alte, verfallene Lagerhalle, die Paul in ein Theater umwandeln will.

Das größte Projekt allerdings ist für Luke, Leigh, Paul und Nina, ob sie selbst es schaffen, sich aus den emotionalen Trümmern zu befreien, die ihnen die vorangegangene Generation hinterlassen hat. Oder ob es letzten Endes doch besser ist, an nichts zu glauben. ■

Sadie Jones

Jahre wie diese

Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. 416 S., geb., €20,60 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2015)

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