Wie wird man Scherge?

Wie kann ein widerständiger Mensch in Zeiten der Diktatur seine Würde bewahren? Das ist die Kernfrage in Ilija Trojanows Roman „Macht und Widerstand“. Ein Gespräch über Herkunft und Nationalismus, Karrierismus undIdealismus, Gewalt und das Böse, Freiheit oder Sicherheit.

Als Sie vor acht Jahren nach Wien gezogen sind, haben Sie gesagt, dass Sie es schön fänden, hier nicht nach Ihrer Herkunft gefragt zu werden, wenn Sie Ihren Namen nennen. Was ist denn so diskriminierend an dieser Frage? Sie könnte ja echtes Interesse signalisieren.
Könnte, das ist schon klar. Aber die Frage nach der Herkunft klammert die vielen anderen, wichtigeren Aspekte eines Menschen aus. Diese Obsession für die Herkunft erklärt sich durch die jahrhundertlange Nationalstaatlichkeit und den daraus resultierenden Nationalismus, der in unseren Ritualen und Gesten, unserer Erziehung, unseren Monumenten und in unserem Blick auf die Geschichte noch immer dominant ist, obwohl wir uns als weltoffen und universell darstellen. Ich mag nicht durch die Vorurteile eines anderen definiert werden. Ich mag nicht eingeschätzt werden, bevor mich einer überhaupt kennengelernt hat. Und ein Mensch, der ohne Vorurteile ist, der muss erst erfunden werden.
Was sagen Sie zur Haltung vieler Österreicher gegenüber weniger privilegierten Ausländern?
Das Problem der Ausländerfeindlichkeit werden wir hier nicht erschöpfend behandeln können, das wäre ein eigenes Thema. Aber ich sehe jedenfalls ein komplettes Versagen der Politik und einen elitären Snobismus bei manchen, angeblich linken Kollegen. Die Wut von Menschen, die mangels Bildung einer medialen Manipulationsmaschinerie ohnegleichen ausgesetzt sind, lässt sich nachvollziehen. Dann wählen sie mangels Alternativen rechts oder überhaupt nicht. Die richtige Haltung wäre, sie ernst zu nehmen und zu überlegen, wie eine progressive Linke, die diesen Namen verdient, sie via Sprache, Politik, Konzeption und Vision abholen könnte.
Wie sieht Ihre persönliche Zwischenbilanz als sogenannter Zugereister aus?
Also ich bereue noch immer nicht, hierhergekommen zu sein. Ich glaube ja, dass jeder Mensch seine eigene Großstadt konstruiert und Großstädte gerade deswegen unter etwas komplexeren Menschen so beliebt sind. Ich hab mir mein subjektives Wien aus persönlichen Kontakten, Freundschaften, Räumen, Perspektiven, Geh- und Radwegen zusammengebastelt. Die großen Ausbrüche führen mich in die Ferne. Wien ist der Ort, an dem ich eher genügsam und häuslich bin. Hier mache ich keine großen Entdeckungsreisen, sondern bin ich froh über das Vertraute, das mich zusammenhält. Denn hier ist der Ort, an dem ich schreibe.
Ihr soeben erschienener Roman, „Macht und Widerstand“, behandelt anhand einer Täter- und einer Opferbiografie den Transformationsprozess Bulgariens von einer staatskapitalistischen Diktatur in eine privatkapitalistische Demokratie. Diesem Thema sind Sie auch schon in zahlreichen Reportagen, einemSachbuch und einem Film nachgegangen. Wieso haben Sie jetzt mit Ihrem monumentalen Roman noch eine fiktionale Darstellung draufgesetzt? Und warum haben Sie sich für den Titel „Macht und Widerstand“ entschieden, er weckt doch Assoziationen an Canettis „Masse und Macht“ und lässt deshalb mehr an einen großen Essay als an einen Roman denken.
Ist Tolstois „Krieg und Frieden“ ein Essay? Heutzutage sind geschwätzige Romantitel en vogue, aber ich knüpfe mit dem Titel an die Tradition des 19.Jahrhunderts an. Und warum überhaupt ein Roman? Vielleicht, weil die Frage, wie ein widerständiger Menschin Zeiten der Diktatur seine Würde bewahren kann, ein literarisches Kernthema ist. Und weil es die Fiktion auf Basis der Recherche ermöglicht, ein gesellschaftliches Panorama zu eröffnen, das noch tiefer geht als jede noch so fundierte theoretische Analyse. Konstantin Scheitanov, der Widerständige, und Metodi Popow, der Täter, erzählen exemplarisch durch mich, den Autor, hindurch. Ich versuche, ihnen eine Stimme zu geben.
Sie erzählen die Biografie zweier Antipoden – Konstantin hat ein Stalin-Denkmal in die Luft gesprengt, Metodi ist Offizier der Staatssicherheit und hochrangiger Funktionär – jeweils aus der Ich-Perspektive. Sie müssen also für beide Empathie aufbringen, damit Ihre Figuren glaubwürdig werden. Ist es nicht wesentlich leichter, sich in die Psyche eines Opfers zu versetzen, als in die eines Täters?
Interessanterweise ist es viel einfacher, sich in einen Täter wie Metodi als in ein Opfer wie Konstantin zu versetzen. Denn ein Täter operiert mit Selbstrechtfertigungen, wie sie ein jeder von uns auch für kleinere Verfehlungen parat hat. Der Widerstandskämpfer ist – aus Sicht der heutigen, apolitischen Apathie, des Konformismus, des Mangels an persönlicher, radikaler und mutiger Skepsis – die viel schwierigere Figur. Ein Mensch mit einem Ideal und der Bereitschaft zur Selbstaufopferung, unabhängig davon, ob dieses Opfer auch Früchte bringt, ein so kompromissloser Mensch von manchmal enervierender Dickköpfigkeit, ist faszinierend, war aber literarisch schwer zu beleben.
Konstantin fahndet im Archiv, soweit es ihm nach 1989 zugänglich gemacht wird, besessen nach der Wahrheit. Damit nervt er selbst ehemalige Schicksalsgenossen, die befürchten, dass er dort auch ihren Verrat an ihm entdecken könnte. Nicht alle waren unter Folter so unbeugsam wie er. Man könnte ihn für einen Kohlhaas oder sogar für einen Verrückten halten.
Ja, mir erscheint er aber nicht als Verrückter, sondern im Gegenteil. Ich glaube, dass er an den Kern dessen rührt, was ein Ideal ist. Die Frage ist doch, wie man als ehemaliger Widerständler zur Staatsmacht steht, ohne sich selbst korrumpieren zu lassen. Wie man in einem repressiven Staat verhindert, von der Sprache und den Taten der Unmenschlichkeit kontaminiert zu werden. Kurz, wie man es schafft, nicht so zu werden wie diejenigen, gegen die man kämpft. Das ist ein Leitmotiv des Romans.
Wie schaut es mit den Idealen der systemkonformen Täter vom Typus des Metodi aus? Haben sie ihre Verbrechen für ein vermeintliches Ideal begangen?
Nein! Es ist ein Denkfehler vieler Leute, denendie ehemaligen kommunistischen Staaten nur aus der Ferne bekannt sind, die Administratoren der Macht für irregeleitete Idealisten zu halten. Das waren Befehlsempfänger, die mit Kalkül ihre Karriere gemacht haben. Die wirklich überzeugten Kommunistenwaren die ersten Opfer dieses Staatsapparats,in dem alles andere als glühende Kommunisten vertreten waren.
Der österreichische Autor Albert Drach hat die Bösartigkeit der Menschen für eine Folge der Dummheit gehalten. Anderseits gibt es die Tendenz, das Böse als genial darzustellen. Wie sehen Sie das?
Nach meiner Leseerfahrung werden die meisten Bösewichte in der Literatur als viel zu intelligent dargestellt. Brillante Mephisto-Figuren, mit allen giftigen Wassern gewaschen, aber gleichzeitig charmant und verführerisch. Mir war es deshalb wichtig, Metodi Popow, den kommunistischen Apparatschik, weder als faszinierenden Typ noch als Karikatur zu zeichnen. Er ist ein Durchschnittsscherge, nicht einmal besonders sadistisch, nur absolut opportunistisch. Einer, der seine sogenannte Pflicht erfüllt, um im Zentrum der Macht zu bleiben. Es geht darin um die Bösartigkeit des Mittelmaßes.
Okay. Von der Banalität des Bösen hat schon Hannah Arendt geschrieben, ohne Eichmann für besonders klug oder besonders dumm zu halten. Ein Durchschnittsscherge eben, der in einer anderen historischen Situation, vielleicht weniger oder auch gar keine Verbrechen begangen hätte. Aber wie verhält es sich mit der Intelligenz, die der Autor seinem Widerstandskämpfer angedeihen lässt? Er kennt die Schriften von Marx und Engels nicht nur in- und auswendig, er weiß sie auch Länge mal Breite zu interpretieren. Haben Sie Konstantin nicht Ihrerseits sehr idealisiert und ihm Ihr eigenes Wissen und Ihre eigene Intelligenz untergejubelt?
Also, da kann ich Sie beruhigen. Es gibt Leute in Bulgarien, die erheblich intelligenter als ich sind – und sie waren überwiegend im Gefängnis. Dort hatten sie auch keine andere Lektüre als die kommunistischen Klassiker. Bei meinen Recherchen haben sie mir auch gesagt, dass sie überhaupt nicht bedauern, im Gulag gewesen zu sein, weil dort fast die gesamte Intelligenzia des Landes versammelt war.
Wie hält man so etwas aus?
Sie waren die Elite des Landes. Nicht sozial gesehen, aber was ihre moralische, intellektuelle und teilweise auch was ihre physische Fähigkeiten betrifft. Außergewöhnliche, oft noch sehr junge Menschen. Denken Sie etwa an Nelson Mandela. Wie hat er es ausgehalten, fast zwei Jahrzehnte lang in einer Zelle von nur vier Quadratmetern auf der ehemaligen Gefängnisinsel Robben Island zu sitzen und trotzdem gütig und verständig zu werden? 99 Prozent der Leute, die ihn heute so verehren, hätten ihn in den Siebzigerjahren, als er gewaltsam gegen das Apartheidregime gekämpft hat, für zu radikal gehalten. Ich halte das Extreme für eine Notwendigkeit der Verteidigung des Menschlichen.
Insofern bekennt sich auch Ihr Widerstandskämpfer Konstantin nicht nur zur Gewalt gegen Statuen. Seiner Ansicht nach hätte man Breschnew samt Schiwkow aufhängen sollen, als sie dem ohnehin biegsamen Dubček vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei einen sogenannten Freundschaftsbesuch abgestattet haben. Ist das nicht ziemlich krass?
Ich finde, dass die Diskussion um die Gewalt verlogen geführt wird. Gewaltlosigkeit fordern wir immer dort ein, wo sie in unserem ureigensten Interesse ist. Wenn Gewalt in unserem ureigensten Interesse ist, dann sind wir natürlich für Gewalt. Im Übrigen gibt es ja selbst in unserem Rechtssystem legitimierte Gewalt, Stichwort Notwehr. Das ist allerdings ein flexibler Begriff – Stichwörter Krieg, Afghanistan, Irak. Was ist da gerechtfertigte Notwehr, und was ist Massenmord oder Kriegsverbrechen?
In Ihrem vor sechs Jahren gemeinsam mit Juli Zeh verfassten Essay, „Angriff auf die Freiheit“, polemisieren Sie gegen den Überwachungsstaat. Ist dieser nicht auch eine Art von Notwehr? Hat sich in den sechs Jahren seither nicht ungemein viel getan?
Ja, vor allem überwachungsmäßig.
Auch terrormäßig.
Also bei uns – in Österreich oder Deutschland – ist in dieser Zeit genau nichts passiert. Und ich finde es schon wichtig, darauf hinzuweisen, dass die allermeisten Opfer terroristischen Terrors Moslems sind. Das wird in dieser Debatte nur zu gern übersehen.
Die Opfer des Anschlags auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und die eines jüdischen Supermarkts in Paris waren aber keine Moslems.
Ich sage ja nicht, dass alle Opfer Moslems sind, aber vermutlich 98Prozent. Grundsätzlich bezweifelt ja niemand, dass man bei totaler Überwachung mehr Sicherheit gewährleistet. Aber auch das ist eine verlogene Debatte. Es geht überhaupt nicht darum, ein bisschen mehr Sicherheit für uns Bürger herzustellen. Es geht um einen kompletten Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen dem Individuum, dem Staat, der Gesellschaft und den Großkonzernen. Die alte Kontrolle und Repression ist völlig passé, heute funktioniert das über den Datenfluss und die Spuren, die wir im Netz hinterlassen. Und je weniger Spuren einer hinterlässt, desto verdächtiger ist er.
Sind Sie auf Facebook, um sich unverdächtig zu machen?
Nein, aber ich stelle nur Sachen hinein, von denen ich mich freuen würde, wenn alle davon erführen. Inklusive der NSA.
Sie werden nie erfahren, was da virtuell über Sie gesammelt wurde und warum man Ihnen 2013 die Einreise in die USA verweigert hat. In Ihrem Roman zitieren Sie aus realen Akten der bulgarischen Staatssicherheit, die für kurze Zeit zugänglich waren. Nach der Wahl des Zaren Simeon II., mit bürgerlichem Namen Simeon Sakskoburggotski, war es damit vorbei.
Ja, dieser Zar hat sich selbst als antikommunistisch tituliert, wurde aber von den Altkommunisten in Stellung gebracht. Das ist natürlich nicht die offizielle Lesart. Es wird einen Skandal in Bulgarien geben, wenn der Roman dort erscheint.
Sie wollen, dass zur Sprache kommt, was immer noch verschwiegen wird, soll heißen, Sie glauben an die Wirkung des Wortes?
Ich bin jedenfalls – wie Konstantin im Roman – davon überzeugt, dass der ehemaligen Macht, die trotz aller Transformationen noch immer das Sagen hat, etwas entgegengestellt werden muss, und sei es durch etwas so scheinbar Machtloses wie eine Publikation. Wenn man sie nicht analysiert, kritisiert und diskreditiert, dann hat diese alte Macht auf fatale Weise gewonnen. Dann bleibt sie Sieger der Geschichte, schlimmer noch, dann können sich auch die nachfolgenden Generation nicht von den Deformationen befreien, die sie angerichtet haben. Veränderung geschieht nicht allein durch einen Systemwechsel, wie das von den Massenmedien suggeriert wird. Veränderung ist ein langwieriger Prozess, in dem der Kampf um die Erinnerung eine ganz zentrale Rolle spielt.
Haben Sie ein detailliertes Konzept erstellt?
Man ist so etwas wie der Architekt eines Wolkenkratzers. Manchmal fühle ich mich wie jemand, der mit einem Rucksack voller Steine über ein Seil balanciert. ■

Ilija Trojanow: Zur Person

1965 in Sofia geboren, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Lebte in Nairobi, München, Mumbai und Kapstadt. Wohnt heute in Wien. Seit 2008 Herausgeber der Reihe „Weltlese. Lesereisen ins Unbekannte“ in der Edition Büchergilde. Bei Hanser erschienen u. a.
An den inneren Ufern Indiens
(Eine Reise entlang des Ganges, 2003), Der Weltensammler (Roman, 2006), Der entfesselte Globus (Reportagen, 2008) und EisTau (Roman, 2011).
Trojanow wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 2009 mit dem Preis der Literaturhäuser.

Soeben ist sein neuester Roman erschienen:
Macht und Widerstand.
480 S., geb., €25,70
(S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.