Bei der Sexpuppe

„Expedition Europa“ im tiefen, dunklen Graubünden.

Dass ich auf dem Dach Europas herumkurve, um den Spuren einer Sexpuppe zu folgen, hat mit einer anderen Lust zu tun: Ich muss dafür in alle drei Sprachräume des einzigen dreisprachigen Schweizer Kantons, nach Graubünden. Anders als die österreichische Alm, die mit der Sennerin eine sexuelle Verheißung hervorbrachte, sah die Schweizer Alm nur Männer herumhocken. Die Legende besagt, dass einsameGraubündner Senner eine weibliche Puppe bastelten, das „Sennentuntschi“. Sie liebkosten und fütterten die Puppe, bis sie am Ende des Sommers lebendig wurde und fürchterliche Rache nahm. – Als Beleg existiert nur ein einziges Exemplar. Eine primitive Holzfigur von 40 Zentimetern. Auf den Kopf ist echtes Frauenhaar geklebt, die Brüste sind aus Stoff, die Vagina ist geschnitzt. Am meisten erschrickt der Mund – ein tiefes, dunkles Loch.

Ich fahre zum Besitzer. In die Surselva, in ein breites Tal hinauf. Zwischen Dreitausendern hat hier das rätoromanische Idiom Sursilvan überlebt. Bei früherer Gelegenheit saß ich hier rum und lauschte, wie die Leute deutsche Worte in ihr Rätoromanisch mischten: Fernbedienung, fruchtig, fertig. In Sumvitg erwartet mich Peter Egloff. Ein hochgewachsener Intellektueller mit kräftigem Gebiss, früherChef des rätoromanischen Fernsehens, pensioniert. Er erzählt, dass er 1978 auf einer Alm mit einem Einsiedler ins Gespräch kam. Jener Angelo renovierte gerade sein Steinhaus, „nach einer Weile verschwand er kurz und kam mit einer Puppe zurück“. Egloff kaufte das Objekt. In der folgenden Nacht hatte der junge Volkskundler „einen ausgesprochen üblen Traum“. Egloff wurde der „dreidimensionalen Toilettenkritzelei“ nie richtig froh. Er gab sie dem Rätischen Museum Chur. Ich frage den führenden Autor rätoromanischer Zunge, was „Sennentuntschi“ in seiner Sprache heißt. So ein Wort gibt es offenbar nicht.

Und hier erschoss sich Gins Bruder

Zwei Stunden Fahrt an den Fundort, ins italienischsprachige Tal Calanca. Dauernd pfeift der Wind, die Bevölkerung schrumpft seit 1733, und Basler Architekten wollten die 800 Einwohner überhaupt aufgeben. „Entleerungsstrategie“, es wäre rentabler. Ich erfahre, dass Angelo „Gin“ gerufen wurde und lange tot ist. Am Talboden in Cauco spreche ich seine Schwägerin. Sie weiß von nichts. Ich erkläre ihr mehrmals das Objekt, Gins Schwägerin schickt mich aber dauernd zu einer Madonna. „Signora, es geht um das Gegenteil einer Madonna!“ Sie rechtfertigt sich: „Ich lebe erst 40 Jahre in Cauco.“

Erregt von der Neuigkeit, die ich bringe, läuft schnell eine Runde von Gins Bekannten zusammen. Das Theaterstück und der Film zum Thema sagt allen was, aber keiner hat je gehört, dass das echte Tuntschi bei ihnen gefunden wurde. Der Gin sei ein einsamer Trinker gewesen, „in der Kirche hat man ihn nie gesehen, einmal fuhr er mit dem Fahrrad in eine Prozession“. Eine Weile argwöhne ich, dass sich diese pensionierten Katholiken für das Tuntschi genieren. Doch streckt da auch ein Schaubuden-Italo-Pensio mit riesigem Ohrring seinen nackten Bauch heraus. Der ist nicht verklemmt.

Ich fahre auf die Alm Masciadonhinauf, die Straße wurde nach 1978 asphaltiert. Oben eine große Kapelle, kleine Häuschen, Stein unten und Holz oben, meist verfallen. Irgendwo weiden die schottischen Hochlandrinder von Gins Neffen, und ein Deutschschweizer Technikfeind wohnt hier. Aus Cauco weiß ich, dass sich hier Gins Bruder erschoss, auch so ein Trinker, und ein anderer Spinner habe sich hier Fernrohre gebastelt. „Hat nicht der die Puppe...?“

Ansonsten lerne ich im Calancatal, dass sommers auf den Almen fast nur noch Deutsche arbeiten. Damit endet das Märchen. Diese Deutschen schnitzen sich gewiss kein Tuntschi. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2015)

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