„Das hatte ich nicht gewollt!“

Drago Jančars großartiger Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ rührt an ein Tabu der jugoslawischen Nachkriegsgeschichte: am Mythos des entschlossenen Widerstands gegen den Nazismus. Aus dem Blickwinkel von fünf Figuren wird die Geschichte von Opfern und Tätern neu erzählt.

Ende Mai 1945 ist Stevan Radovanović, ehemals Kommandant einer Kavallerieschwadron der königlich-jugoslawischen Armee, ein Gefangener der britischen Besatzungsmacht. Erschöpft von den verlustreichen Kämpfen gegen die Partisanen, verletzt von Granatsplittern, liegt der aus Serbien stammende Major in einer Baracke nahe der slowenisch-österreichischen Grenze und sinniert ins Nichts: „Eine besiegte Armee. Ein militärisches Fiasko. Eine Armee ohne Staat. Mit dem Bild eines jungen Königs an der Barackenwand, der jetzt, da seine Armee in Gefangenschaft ist, mit seinen Hunden in einem Londoner Park spazieren geht.“ Und während die britischen Soldaten die Gefangenen verhören um Kollaborateure ausfindig zu machen, muss Stevan erfahren, dass ein „ehemaliger österreichischer Gefreiter, dieser kroatische Bauernflegel“ namens Tito, in das königliche Palais in Belgrad eingezogen ist.

Radovanović ist ein Verlierer, er ist deprimiert und orientierungslos. Doch eines Nachts erscheint ihm Veronika, die große Liebe seines Lebens: Veronika Zarnik, die elegante Dame aus dem Schloss, der er Reitunterricht gegeben, die im September 1937 ihren Mann, Leo, verlassen hat und seine Geliebte geworden ist, die – wer kann so viel Glück fassen! – nach seiner Strafversetzung mit ihm bis in ein lächerliches Provinznest ins südliche Serbien gezogen ist, Veronika, die Stevan schließlich wieder verlassen hat, um erneut mit Leo im slowenischen Krain, auf Schloss Podgorsko, zu leben. Veronika, die im Jänner 1944 verschwunden ist und – was Stevan ahnt, aber doch nicht genauer wissen will – von den Partisanen ermordet wurde. Jetzt aber, in diesem Moment, steht Veronika in der Baracke neben ihm. „Kannst du auch nicht schlafen, Stevan?“, fragt sie ihn. „Nein“, antwortet Stevan. Wer könnte auch nach einem solchen Irrsinn schlafen!

Mit diesem Traum- und Trugbild beginnt der großartige, erschütternde Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ des slowenischen Autors Drago Jančar. In dessen Zentrum erleben wir die selbstbewusste, bewundernswerte Veronika, die ihr Leben genießen will. Die als Schlossherrin bei ihren Bediensteten und bei den Bauern in der Umgebung respektiert und geschätzt wird, weil sie keine Standesdünkel kennt und weil sie zudem den Partisanen gelegentlich behilflich ist. Die aber schließlich von Partisanen zusammengeschlagen, von mehreren Männern vergewaltigt und ermordet wird.

„Das hatte ich nicht gewollt“, gesteht der Denunziant Ivan Jeranek viele Jahre nach dem Krieg. Seinen ungeliebten Spitzelauftrag hatte er in einer Aufwallung von Eifersucht plötzlich doch ernst genommen. Jeraneks Nachricht, Veronika unterhalte eine Liebschaft mit einem deutschen Wehrmachtsarzt, setzt eine fürchterliche Maschinerie in Gang, die er nicht mehr zu stoppen vermag. Aus dem von ihm beobachteten Händchenhalten mit einem Deutschen entsteht nach den diversen Stille-Post-Etappen geheimer Übermittlung der Verdacht, sie habe ein Naheverhältnis mit dem Gestapo-Chef Sloweniens. Den Rest besorgen die Männer aus dem Wald. Sie sind durch die zahlreichen Verluste in der slowenischen Zivilbevölkerung radikalisiert, und wenn jemand die Gestapo zum Freund hat, bei dem ist Gnade nicht angebracht. Jeranek hätte sich für die Unschuld Veronikas verbürgen und womöglich ihr Leben retten können – aber er ist zu feige, sich seinen Anführern zu widersetzen.

Gewiss, Kriege setzen Moral außer Kraft. Aber es hätte nicht viel bedurft, das zeigt Jančar, und diese Morde hätten verhindert werden können. Beeindruckend, wie der Autor die Strategien der Entlastung und Rechtfertigung seiner Figuren vorführt, wie er die Rhetorik ihrer Erklärungs- und Entschuldigungsmuster zeigt – die heute so funktionieren wie damals. „Vielleicht haben wir damals Scheiße gebaut“, versucht einer der Partisanen Jahre später weniger als halbherzig eine Mitschuld an den Morden einzugestehen. Aber, so folgert er, man müsse „doch auch uns verstehen, wir wurden gejagt und gequält, die eine Grausamkeit bedingte die andere“.

So wie Stevan Radovanović hofft auch Veronikas Mutter nach Kriegsende, dass ihre Tochter wieder erscheint, dass sie mit ihrem Mann vielleicht nur verreist ist und bald wieder zurückkommen wird. Auch der Leser wünscht sich, die beiden wieder lebendig zu sehen, denn so viel ist klar: Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Gewiss, sie waren zu leichtgläubig und haben auch Vertreter der deutschen Wehrmacht als Gäste auf ihrem Schloss empfangen. Das konnte den Partisanen nicht entgehen.

Titel und Roman verweisen aber auch auf die größere Sehnsucht einer Gesellschaft, zu deren Gründungsmythen der entschlossene Widerstand der Zivilbevölkerung gegen den Nationalsozialismus zählt. Und damit auf den Wunsch, dass solche Verbrechen nicht geschehen sind, dass es nur ein böser Traum war, der gerechte Kampf gegen den Faschismus habe auch Grausamkeiten zur Folge gehabt. Da hilft nur, dass die widersprüchliche Geschichte von Opfern und Tätern neu erzählt wird.

Der Roman berührt, auch das macht seinen Rang aus, ein Tabu der jugoslawischen Nachkriegsordnung. Jeder, der heute mit Menschen in Slowenien oder Kroatien über jene Zeit spricht, weiß, was viele bis heute nicht wissen wollen: Auch bei den Partisanen haben autoritätshörige Pflichterfüller Karriere gemacht.

Jančars literarische Raffinesse liegt vor allem darin, wie er die Geschichte aus dem Blickwinkel von fünf Figuren erzählen lässt. So darf auch der aus Bayern stammende Nazi-Arzt – er war es, der damals tragischerweise Veronikas Händchen hielt – seine Sicht darlegen, genauso wie Veronikas Mutter, das Mädchen Joži, die in der Schlossküche arbeitete, und zuletzt der Denunziant Jeranek.

Und so geht der Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ – und das macht seine Größe aus– auch über den slowenischen Fall hinaus und berührt unser eigenes historisches Selbstverständnis, etwa, wenn wir in der Mitte Europas über Politik sprechen. Dem Leser vorzuführen, wie autoritäre Erziehungsmuster und kleine Feigheiten katastrophale Auswirkungen haben können.

Jančar hat bereits mehrere Bücher mit Stoffen aus der Geschichte Sloweniens verfasst. „Die Nacht, als ich sie sah“ ist ein äußerst eindringlicher, auch bisweilen sehr drastischer Roman. Es handelt sich zweifellos um Jančars Meisterwerk, um einen grandiosen Text der zeitgenössischen Literatur Europas.

Möglich, dass dieser Roman Lesern mit unbeugsamen moralischen Prinzipien missfällt. Aber alle, die bereit sind, sich den schmerzhaften Widrigkeiten unserer Geschichte zu stellen, werden das Buch nicht vor der letzten Seite weglegen. ■

Drago Jančar

Die Nacht, als ich sie sah

Roman. Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof.

200S., geb., € 19,90 (Folio Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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