Seitwärts in die Zukunft

Oft nistet sich die Paranoia am hinterhältigsten ein, wo uns Clemens J. Setz scheinbar nichts anders erzählt als den Alltag seiner Figuren. „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“: ein Roman aus neuen Medien und alten menschlichen Gewohnheiten.

Tausend-Seiten-Setz: Unter solchen und ähnliche Adressen formieren sich auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken erste kollektive Lesegruppen. Was ist geschehen? Clemens Setz, der 1982 geborene Grazer Autor, der mit Büchern wie „Die Frequenzen“ (2009) und „Indigo“ (2012) von sich reden gemacht hat, hat einen neuen, sehr umfangreichen Roman angekündigt. Jetzt ist die „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ erschienen und bringt es inklusive der Danksagung auf exakt 1021 Seiten. Zu viel für einen einzelnen Leser, zu viel auch für die Gepflogenheiten des Betriebs?
Mitnichten: Denn in gewisser Weise ist der neue Roman eines der einfachsten Bücher, die Setz bisher geschrieben hat. Noch nie war bei diesem Autor der erzählerische Raum so genau abgesteckt und die Handlung nach außen hin so definiert und geschlossen wie hier. Die klassischen Identitäten von Raum, Zeit und Figur, gegen die Setz in seinem Schreiben bisher mehr oder weniger sanft rebelliert hat, scheinen in dem Buch „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ wieder wie selbstverständlich in ihr Recht gesetzt. Ort der Handlung ist Graz: „Eine dumme mittelgroße Zwischendingstadt“, sagt Natalie Reinegger, die Hauptfigur des Romans. Ob sie weiß, wovon sie redet? Viel mehr als Graz kennt sie jedenfalls nicht.
An seiner Natalie, einer Frau Anfang zwanzig, hat der Erzähler eine Närrin gefressen. Er verfolgt all ihre Bewegungen, ihr ganzes Denken und Tun. James Joyce war an Leopold Bloom nicht viel näher dran, als es jetzt Clemens Setz an Natalie Reinegger ist. Anders als in Dublin vor mehr als 100 Jahren ist es in der Gegenwart von Graz allerdings kein innerer Redefluss mehr, dem zu folgen wir gefordert sind. Alles, was Natalie in sich hat, scheint bei ihr von vornherein als Kommunikationsfluss nach außen gestülpt. Wenn sie als Streunerin durch die Nacht zieht und in Unterführungen fremden Männern gratis Oralsex anbietet (die darüber ganz verdattert sind), zeichnet sie die Geräusche auf ihrem iPhone heimlich auf. Zu Hause bastelt sie daraus Klangcollagen, die für sie das eigentliche Erlebnis sind.
Alle Wirklichkeit ist medial vermittelt. Das ist einer der bestimmenden Leitsätze, denen sich Setz verschrieben hat. Das allein wäre für ein mehr als 1000-seitiges Romankonstrukt freilich ein recht dürftiger Ansatz. Was hier zur Verblüffung des Lesers hinzukommt, ist eine ganz neue Art von Paranoia, die aus solchen und ähnlichen Grundüberzeugungen entsteht und die an allem nagt, was das Buch uns aus glatten Theorieanwendungen heraus als sichere Behauptung offeriert. Stephen King lauert in den Sätzen von Clemens Setz. Und oft nistet sich die Paranoia gerade dort am hinterhältigsten ein, wo uns der Autor scheinbar nichts anderes als den puren Alltag seiner Figuren erzählt. In „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ist das gesamte Handlungskonstrukt paranoid: Natalie Reinegger nimmt einen Job als Pflegerin in einem Altenheim an. Jedem Bewohner dort – die meisten von ihnen sind geistig abwesend – ist eine Bezugsperson zugeteilt. Natalie wird ein gewisser Alexander Dorm zugewiesen. Dieser Mann, ein ausgesprochener Frauenhasser, hat, als er dazu noch fähig war, seine ganze Energie darauf verwendet, einem anderen Mann hinterher zu sein. Dabei hat er alle denkbaren Stalkingtechniken angewandt. Schließlich hielt es die Ehefrau des Angebeteten nicht mehr aus und brachte sich um. So zumindest erzählt man es sich im Heim.
Christoph Hollberg, das Objekt von Dorms ganzer Begierde, besucht den an den Rollstuhl gefesselten Mann regelmäßig, quält ihn dabei aber (wie Natalie entdeckt) auf alle erdenklichen Arten, wobei ein immer wieder angedrohter Liebesentzug die fürchterlichste Variante dieser Qual ist. Nach außen hin, so sagt man im Heim, funktioniert diese „Konstruktion“ gut, denn insgesamt trägt das Ganze zur Stabilisierung der Situation bei. In die inneren Voraussetzungen des Verhältnisses der beiden Männer dringt Natalie immer weiter ein, ohne dass sie daran etwas zu enträtseln vermag.
Detektive und Aufklärer, so könnte man sagen, und das beträfe dann gleich auch alle Buchexegeten im klassischen Sinn, haben in diesem Buch keine Chance. Alles, was mit Natalie hier passiert, besteht darin, dass auch sie Teil des paranoiden Systems wird. „Männer“, so sagt die junge Frau an einer Stelle, die mit all dem nur scheinbar nichts zu tun hat, erschienen ihr „wie traurige Geheimagenten, deren Auftraggeberland nicht mehr existiert“. Das Problem ist nur, dass die Männer weitermachen, als ob sie davon gar nichts wüssten.
Am Ende findet weder Aufklärung noch Kampf statt, obwohl so vieles in diesem Buch und bei seinen Protagonisten auf einen finalen Showdown vorausweist. Dieses Implodieren – oder eigentlich besser noch: fast absichtslose Vergessen der erzählerisch so sorgsam aufgebauten Spannungen, verbindet das Schreiben von Clemens Setz mit jenem von Kafka. Giorgio Agamben, der italienische Philosoph des Ausnahmezustands, hat vor Kurzem in einem Interview in der „Zeit“ darauf hingewiesen, dass gerade das die eminente Aktualität Kafkas ausmache: Nicht um den Kampf zwischen den Figuren und die Definitionsmacht über die Welt gehe es, sondern um die Vermeidung des Kampfes im konkreten Gebrauch, den die Figuren Kafkas von der Welt machen.
In diesem Sinn ist Natalie Reinegger eine kafkaeske und zugleich vollauf gegenwärtige Heldin. Beachtenswert die Art und Weise, wie diese Frau aus Graz, die überall in der westlichen Welt zu Hause sein könnte, von der Welt Gebrauch macht. Imaginäre Haustiere sitzen ihr auf den Schultern, nicht nur deshalb, weil sich dieser Vorstellung folgend ihre Rückenschmerzen bessern. Zu Cum-Cookies verwachsen sich ihre sexuelle Fantasien. Mit Chem-Trails steuert sie ihre Wahrnehmung; und im Trinkwasser vermutet sie Mind-Control-Substanzen. Über das Netz regelt sie ihre sozialen Kontakte. Großartig in einem ganz altmodischen Sinn sind jene Passagen, in denen Setz Natalies Beziehung zu ihrer Mutter beschreibt. Glanzvoll auch so manch ein Einblick, den uns der Autor, dieser ungeheuerliche Meisterstalker, in die Träume seiner Hauptfigur gibt.
Dabei bleibt alles, was in diesem Roman in die Tiefe führt, sprachlich an der Oberfläche. Freud und alle ähnlich motivierten psychologischen Erklärungsmuster haben in dieser gegenwärtigen Welt aus neuen Medien und alten menschlichen Herkünften ausgedient. Der erzählerische Raum, den Clemens Setz hinstellt, als würde es niemals mehr eine andere Art zu schreiben geben, macht den Leser halb blind. Nichts und niemandem kann man trauen, dennoch vertraut man sich dankbar den schönen Sätzen des Autors an. Natalie bringt auf den Punkt, wohin die Reise geht: „Seitwärts in die Zukunft!“ ■
Der Autor stellt das Buch am 21. September um 19 Uhr im Grazer Literaturhaus vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2015)

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