Lob, Kritik und Irrtum

35 Jahre lang führte Helmuth Schönauereine Art Chronik beständigen Lesens: das pointierte „Tagebuch eines Bibliothekars“. Lektüreberichte eines lesend Schreibenden und schreibend Lebenden.

Helmuth Schönauer

Tagebuch eines Bibliothekars

Band 1: 1982–1996. Mit einem Vorwort von Franzobel. 1000S., brosch., €49,90 (Sisyphus Verlag, Klagenfurt)

Tagebücher schreiben ja viele. Die einen versuchen durch eine schwierige Zeit ihres Lebens zukommen, indem sie sich mit sich selbst über die Ungerechtigkeiten der Welt und ihre eigenen Unzulänglichkeiten unterhalten; andere möchten die äußeren Ereignisse und inneren Beben im täglichen Notat festhalten und etwas Ordnung in ihr Leben bringen, das ihnen sonst abhanden zu kommen droht. Und wieder andere benötigen die schriftliche Selbstaussprache, weil sie sich Rechenschaft geben und den Überblick über ihre Verfehlungen, Versäumnisse, Verdienste bewahren wollen.

Was aber ist das voluminöse „Tagebuch eines Bibliothekars“, das jetzt erschienen ist? Im materiellen Sinne handelt es sich um die oft recht knappen, aber immer erfreulich pointierten Rezensionen, die der 1953 geborene Tiroler Bibliothekar Helmuth Schönauer seit 1982 zur eigenen Verwendung, für die Zeitschrift Buchkultur oder seinen legendären „Newsletter“ verfasst hat und mit energischer Regelmäßigkeit wohl auch weiterhin verfassen wird, bis ihm geistiger Abbau oder der Tod dauerhaft von seiner diaristischen Lebensarbeit entbinden werden. Im geistigen Sinne dreht es sich um die singuläre intellektuelle Anstrengung eines Außenseiters im literarischen Betrieb, der nicht weniger anstrebt, als eine subjektive Literaturgeschichte der Gegenwart zu verfassen. Und im biografischen Sinne schreibt hier einer ums Leben und entwirft seine Existenz in Form von Lektüreberichten, also als Chronik des beständigen Lesens und der Erfahrungen, die er dabei macht.

Anzuzeigen ist eines der kühnsten österreichischen Verlagsprojekte: Kaum ist der erste – von Franzobel mit einem informativen wie warmherzigen Vorwort versehene – Band erschienen, der die Kritiken von 1982 bis 1998 sammelt, sind schon drei Folgen angekündigt, mit denen Schönauers Rezensionen aus fast 35 Jahren zur Gänze vorliegen werden. Der kleine Klagenfurter Sisyphos Verlag löst ein, was Schönauer in einer Besprechung aus den 1980er-Jahren nebenbei und doch programmatisch so formuliert hat: „Die spannendste Literatur erscheint ohnehin schon längst nicht mehr in Großverlagen.“ Wenn Schönauer seine eigene Lebensgeschichte als fortgesetztes Leseabenteuer erzählt, ist daher viel von kleinen Verlagen die Rede, deren Bücher es nur höchst selten auf die Seiten des Feuilletons oder in die Auslagen der Buchhandlungen bringen.

Wer sich in den 1980er- und 1990er-Jahren mit der österreichischen Literatur beschäftigt hat, der wird, so wie ich, in diesem Buch fortwährend an verwegene Pläne und gescheiterte Unternehmungen erinnert werden, die er längst vergessen hatte. Wer erinnert sich noch an die Herbst-Presse, jenen bibliophilen Verlag, den der Lyriker, Buchgestalter, Grafiker Werner Herbst betrieben hat,ein Feingeist mit der Statur und dem sinnenfrohen plebejischen Auftreten des Handarbeiters, dessen Verlag mit dem unerwarteten Tod seines Namenspatrons 2008 eingestellt wurde? Oder an den Gangan Verlag, dessen Verleger Gerald Ganglbauer nach Australien übersiedelte, sodass es einen österreichischen Verlag mit Verlagssitz in Sydney gab, bis sein Besitzer, schwer erkrankt, nach Österreich zurückkehren musste? Wer erinnert sich noch an den Verlag Blattwerk in Linz, für Avantgardistisches zuständig und2000 eingestellt, oder an die Edition Umbruchin Mödling, die zwischen 1985 und 1995 ihr Programm der kritischen Erkundung der Heimat widmete?

In Schönauers präzisen Vermessungen der literarischen Republik begegnet manwahren Helden der Untüchtigkeit, die ihre Verlage auf nichts als Illusionen und Träume gründeten. Als er eine kleine Erbschaft machte, beschloss der Autor C. W. Aigner, in Salzburg einen Verlag zu gründen, in dem vor allem Bücher von Walter Kappacher und Gerhard Amanshauser, zwei Autoren, mit denen er befreundet war und die mit ihren Hausverlagen damals kein Glück mehr hatten, erscheinen sollten. Da man für einen Verlag auch einen Vertrieb benötigt sowie Grundkenntnisse in Betriebsführung und Buchhaltung, war die Erbschaft bald aufgebraucht, sinnvoll vergeudet wie selten eine.

Damals haben nicht nur allerlei Privatleute, kundige und ahnungslose, begeisterte und berechnende, ihre Verlage gegründet, auch ein staatsnaher Betrieb finanzierte mit den Überschüssen ein eigenes Unternehmen, das den korrekten, wenngleich wenig poetischen Namen „Verlag der österreichischen Staatsdruckerei“ trug. Über ein Buch, das dort erschien, schrieb Schönauer 1986: „Ein Verlag, der einen so verstaatlichten Namen hat, geht auch mit seinen Dichtern nicht gut um. Obwohl der Roman von Ernst Petz ,Airbus‘ heißt, ist am Umschlag kein Airbus, sondern eine DC-9 abgebildet. Dafür stimmt auch das Inhaltsverzeichnis nicht.“

Schönauer besitzt die Gabe, scharf und witzig zu formulieren („Bei Mitterers Stücken geht es um die Schwächen der Menschen, aber sinnstiftend behält dann doch der Schwachsinn die Oberhand“), hält sich mit Verrissen aber auffällig zurück. Hier will sich einer lesend nicht über das Missratene empören, sondern rühmen, was ihn begeistert hat. Als Faustregel für Autorinnen und Autoren gilt: Je weniger Erfolg, umso größer die Aussicht, von Schönauer gelobt zu werden. So ist sein Lektüretagebuch auch eine Enzyklopädie der nie zu literarischem Ruhm gekommenen Autoren sowie all jener, die hoffnungsvoll mit einem akklamierten Buch angetreten und nach einem zweiten oder drittenaus der Literatur wieder verschwunden sind. Und wie es schon so ist mit der Literatur: Indem man sich an ein Buch erinnert, das man vor langer Zeit gelesen hat, ersteht auch jene Zeit selbst wieder vor einem.

Nicht alles, was Schönauer lobte, ist literarisch von Belang. Der Allesleser hat nicht nur einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sondern auch einen sympathischen Hang zur ausgleichenden Ungerechtigkeit. Selten, dafür umso auffälliger ist es umgekehrt, dass er harsche Kritik geübt und geirrt hat. Weil es dem Autor aber um seinen Entwurf als lesend Schreibender und schreibend Lebender, hat er nachträglich nichts an seinen Urteilen verändert, auch dort nicht, wo er die Dinge heute vermutlich selber anders sieht. Und das ist gut so, denn nur Schwindler schreiben ihre Tagebücher nachträglich um. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

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