Reise durch ein Journal

Ein Flaneur, ein Empörter, ein Liebhaber der Reflexion. Karl-Markus Gauß betrachtet stilsicher, melancholisch und sehr treffend seine Zeitgenossenschaft: „Der Alltag der Welt“.

Im Mai 2011, zum 57. Geburtstag, er hat seit Längerem unter Schmerzen im Bereich der Halswirbel gelitten, ein Arzt konstatiert Halsstarrigkeit, stellt sich Karl-Markus Gauß eine durch diesen widrigen Umstand ausgelöste existenzielle Frage: „Nicht mehr zurückschauen, dorthin, wo unablässig die Welt verschwindet, aus der ich gekommen bin, und in der großen Mühle gleichermaßen zermahlen wird, wofür wir uns begeistert haben und wogegen wir uns empörten?“ Nein, so unbeweglich kann der Salzburger Schriftsteller, der bisher zwei Dutzend Bücher veröffentlicht hat, zumindest literarisch wohl niemals sein. Er gibt sich dann auch gleich selbst in seinem neuen Buch, „Der Alltag der Welt“, den Freibrief zur Reflexion: „Gerade, weil es anders kam, darf ich nicht vergessen, wovon ich geträumt habe, und erst recht nicht vergessen, wovon ich überzeugt war, dass ich mich niemals mit ihm abfinden werde.“

Der Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ ist ein hervorragender Essayist, Gauß hat in mehreren Büchern Reisereportagen über sprachliche oder anderswie differenzierte Minderheiten inmitten Europas, besonders im Osten, zu einer ihm ganz eigenen Kunstform gebracht. Auch sein eben veröffentlichtes Werk liest man als eine Art Reise – allerdings vorwiegend durch Gedankenwelten. Sein „Alltag“, das fünfte Journal dieser Art, das über „zwei Jahre, und viele mehr“ berichtet, wurde ein komplex gewobener Text in fünf Kapiteln, der Anschauliches, selbst Erlebtes, Skurriles mit literarischen Ausflügen und Anekdoten verbindet. Er sinnt zum Beispiel über das Sinnen und andere Wörter, deren diverse Bedeutungen nicht mehr allgemein gebräuchlich sind. Das Reisetagebuch eines Nachdenklichen bietet Anleitungen fürs Nachdenken.

Besonders am Anfang, vielleicht unter dem Eindruck der Nackenschmerzen, ist der Ton melancholisch. In diesen zwei Jahren hat der Erzähler einige Freunde sterben sehen. Blitzartig aber kann er nach solchen Einschüben von Trauer in einen ironischen, wenn es sein muss, sogar beißenden Ton fallen, um dann wieder mit einer paradoxen Wendung fast versöhnlich abzuschließen. Gauß schreibt Journale, aber er ist kein vom Trend getriebener Journalist, eher ein Flaneur oder Denker aus der aufgeklärten Ära Diderots, der sich über den Zeitgeist belustigt. Er würde auch zu einem Beobachter aus jüngeren Tagen passen, wie etwa Paul Valéry, der im vorigen Jahrhundert mit wachsender Kunstfertigkeit sein Leben lang Tagebuch geführt hat, stets um dieselben Gedanken kreisend, in einer ernsthaften „Arbeit des Geistes“. Und immer wieder neu. Vom Verschwinden ist bei Gauß die Rede, von Apokalypsen und Fälschungen, vom Jahr der Bettler und schließlich von den ungeschriebenen Büchern. Wie ein erfahrener Reiseleiter führt der Autor seine Leser durch vergangene Welten, er streift mit sanfter Mahnung die technologisch bedingten Ablenkungen der Gegenwart und lässt in diskreter Art den Geist der Utopie wehen.

Was erfährt man vom Erzähler, der in gemessener Bescheidenheit Autobiografisches einzuflechten weiß? Wir hören vom Südtiroler Peter Mitterhofer, der sich im schneereichen Dezember 1866 nach Wien aufmacht, um dem Kaiser eine Erfindung zu präsentieren. Eine „Sternstunde des Scheiterns“. Mitterhofer dringt mit seiner Schreibmaschine nicht bis zum Monarchen vor, weitere Versuche fruchten nichts. Ein anderer, ein Amerikaner namens Christopher Latham Sholes, wird später den Erfolg für sich reklamieren, weil er sich an den „König von Amerika, den Waffenfabrikanten Remington“, wendet.

Liebeserklärungen an die Dichter

Gauß macht uns mit düpierten „Vordenkern“ bekannt, und auch mit jenen Jugendlichen in London, die die Botschaft des Konsumismus als Aufforderung zum Plündern deuten. Wer ist hier gescheitert? Das System, der Markt oder jene Menschen, die nur an seinem Rand existieren dürfen? Subtiler zeigt Gauß Versagen anhand einer persönlichen Begegnung mit einem alten Mann, einem höflich-diskreten Schriftsteller namens Johannes W., der ihm unverhofft sein Lebenswerk zur Verfügung gestellt hat. Ganze Regale könnte man mit diesen Schriften füllen, aber die Bedingung des Autors ist, dass sie erst veröffentlicht werden dürfen, wenn er gestorben sei. Er wählt bewusst diese sonderbare Form des Verschwindens.

Das Journal ist nebenbei eine Fundgrube für Literatur, eine imposante Reihe Autoren stellt uns der Erzähler durchaus wertend vor. So macht er dem serbisch-jüdischen Autor David Albahari geradezu eine Liebeserklärung, während er zu António Lobo Antunes, einem portugiesischen Meister höllischer Romane, respektvoll auf Distanz geht. Im Dutzend präsentiert er Schriftsteller vor allem in den „Zwischenstücken“, große Namen tauchen auf, wie Wisława Szymborska, deren Gedichte, und Hermann Broch, dessen Briefe dringend empfohlen werden, aber auch fast Vergessenes wie Xavier de Maistres „Reise um mein Zimmer“.

Von solchen Passagen kann man sich en passant anregen lassen. Manchmal aber, wenn er mit wachem Blick und politisch geschärft durch die Stadt zieht, fordert Gauß auch ziemlich direkt, dass man Stellung bezieht, etwa zum Betteln in der Stadt Salzburg. Besonders empört er sich über die Kriminalisierung und Entrechtung der um Almosen Bittenden. Er schont sie nicht, die Standlerin,die einen hungrigen Rom vertreibt, die regionalen Politiker, die Verbote fordern, um sich ansatzlos zum bettelnden Dalai-Lama auf ein Foto zu drängen. Gauß geht mit arrivierten Salzburger Türken hart ins Gericht, die vor 30 Jahren in die Stadt gekommen sind und sich jetzt anmaßen, Schutz suchende Neuankömmlinge brachial mit Latten und Rohren aus ihren notdürftigen Unterkünften zu vertreiben. Er nimmt sich auch selbst nicht aus, sucht kompromisslos nach den Ursachen der eigenen Empörung: „Wie viele bist du selbst bereit zu ertragen: 10.000? Ärgerst du dich in Wahrheit nicht längst selbst, wenn du auf deinen Wegen an jeder Ecke wieder eine der zerlumpten Gestalten kauern siehst?“ Inzwischen hat dieser Spaziergänger offenbar damit begonnen, sie zu zählen, und schließt daraus: „Erfüllt dich womöglich weniger Sympathie für die Bettler als Verachtung ihrer Feinde?“

Es ist gerade in unseren interessanten Zeiten von großem Nutzen, diesen genauen Beobachter beim Denken zu begleiten. Gelassen nimmt er sich Zeit dafür, erkennt den Nutzen von Umwegen, während er Abkürzungen meidet. So stellt man sich kontemplativ-engagierte Literatur vor. ■

Karl-Markus Gauß

Der Alltag der Welt

Zwei Jahre, und viele mehr. 336 S., geb., € 23,60 (Zsolnay Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2015)

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