Er wollte nur spielen

Manfred Mittermayers neue Biografie über Thomas Bernhard ist ein diskretes Buch, das die Bedürfnisse der großen Zahl seiner Fans nicht plump bedient. Stattdessen liefert er eine Synthese neuer Forschungsergebnisse.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach Thomas Bernhards Tod haben sich neue Gewichtungen biografischer Ereignisse ergeben, der Kenntnisstand darüber hat sich erweitert. Zeitgeschichtlich relevante Polarisierungen sind weggefallen, doch werden sie sich wohl an anderen Konstellationen festmachen, die nicht mehr mit Namen wie dem damals metaphorisch verwendeten „Waldheim“ verbunden sind; auch „katholisch“ hat den Charakter als Kampfbegriff verloren. Was ein ebenso denkbares positives heimisches Selbstgefühl betrifft, wird ihm wohl nicht der historisch gewordene Name Kreisky als Vehikel dienen. Ähnliches gilt für die Skandale „Heldenplatz“, „Holzfällen“ – ein nicht kleiner Teil des Publikums hat diese seinerzeit inflationär kommentierten Ereignisse nicht bewusst erlebt.

Auch hat sich das Wissen rund um Bernhards Vita erweitert – es gibt mehrere Biografien, die Beziehung zu dem Lebensmenschen Hedwig Stavianicek und dem Großvater Johannes Freumbichler ist dokumentiert. Karl Ignaz Hennetmair hat die Siegel seines Tagebuchs eines Jahres mit Bernhard geöffnet, Sammler und Sammlerinnen wie Sepp Dreissinger und Maria Fialik haben demAutor nahestehende Personen interviewt. Zudem wurden 2002 im neu gegründeten Thomas-Bernhard-Archiv Materialien zu Leben und Werk zugänglich, die die heuer beendete 22-bändige Gesamtausgabe ermöglicht haben. Eine neue Biografie über Bernhard, die all diese Veränderungen verarbeitet, hat also etwas Zwingendes.

An vielen dieser Unternehmungen war Manfred Mittermayer beteiligt, Mitglied jenerinformellen Gruppe von Schülern Wendelin Schmidt-Denglers, die dessen Pionierarbeit um Bernhard fortsetzen. Seine neue „große“ Biografie gibt dem Publikum eine unaufgeregte und ausgewogene Synthese all der verstreut publizierten Erkenntnisse unter dem Aspekt des erwähnten Bedeutungswandels und bilanziert die eigene langjährige Forschungsarbeit. Es ist ein diskretes Buch, das die Bedürfnisse der nicht geringen Zahl der Bernhard-Voyeure nicht bedient, die sichetwa eine der berüchtigten „unauthorized biographies“ erwarten – im Übrigen ist die Zitation aus den Privatbriefen Bernhards vonden Erben noch immer untersagt.

Der Einladung zur Interpretation, der ganze Kohorten von Autorinnen und Autoren gefolgt sind, widersteht Mittermayer – offensichtlich hat er die Worte des Meisters, dass die Dichtung dem interpretierenden Volk unerreichbar sei, ernst genommen und referiert stattdessen kommentarlos dessen nicht immer widerspruchsfreien Benennungen des Schlüssels zu seinem oder der Ursache seines Werks. Die Inhaltsangaben derWerke sind knapp, es ist kein Buch, das um die Gunst jener Bernhard-Gemeinde buhlt, die sich über das Urwort „naturgemäß“ verständigt. Statt Interpretationen findet der Leser kluge, kurz gefasste Beschreibungen der narrativen Strategien Bernhards, etwa der absichtlichen Vermischung der „Grenze zwischen feinsinnigem Kommentar und prätentiösem Geschwätz“ oder der des Hinweises auf das Grundmodell vieler Texte, der „Demontage eines Mächtigen“. Auch hat er eine geschickte Art, sich anstehenden Fragen an der signifikantesten Stelle zu nähern und damit sowohl Wiederholungen als auch Auslassungen zu vermeiden.

Mittermayer definiert als Zentrum seiner Arbeit den „Versuch einer Darstellung, wie der Autor der komplizierten Ausgangssituation eines Lebens, das alles andere als durchschnittlich zu nennen ist und buchstäblich auch ein katastrophales Ende hätte nehmen können, eines der bemerkenswertesten literarischen Œuvres des späten 20.Jahrhunderts abgewinnen konnte“. Das ist eine Frage, die einen schon antreiben kann, doch wenn Sigmund Freuds These von der Unergründbarkeit literarischer Produktivität zutrifft, dann ist das ein überfordernder Selbstanspruch. Er wird auch dort durchbrochen, wo klar wird, dass der Biograf bereit ist, seinem Objekt dessen Rätsel zu lassen. Er zitiert etwa den Halbbruder Peter Fabjan, „Jeder Tagwar inszeniert“, oder Michael GuttenbrunnersBericht, Bernhard habe „ununterbrochen gespielt“. Das ist wohl die systemische Ursache des Problems, jene Person, die uns etwa Wieland Schmied beschreibt, mit der, die Hennetmair dokumentiert hat, zur Deckung zu bringen. Hier kommt ein Biograf an die Grenze seines Metiers.

Mittermayer ist präzise und interessant zu lesen, wenn er die einfach komplizierte Relation zwischen Werk und Leben Bernhards, der das Werk ja an der Biografie aufhängen wollte, herausarbeitet. Sein Bernhardsteht quasi zwischen der referierten Wahrnehmung durch andere und der von ihm verfassten Literatur; als Biograf sucht er die Nahtstellen. Spätestens seit der Chronik Huguets wissen wir, dass den biografischen Berichten des „Spielers“ Bernhard nicht voll zu trauen ist – da gab es keine Großbürger und Aristokraten unter den Vorfahren, und die hochgeschriebene Bibliothek des Großvaters – liest man bei Mittermayer – bestand aus Reclam-Bändchen. Auch der von Bernhard dem Großvater zugeschriebene Anarchismus ist – bei dessen Mitgliedschaft in der deutschnationalen Burschenschaft Cheruskia, in der der Arier-Paragraf gegolten hat – fragwürdig. Und dieMontaigne-Zitate aus der „Ursache“ des als „poeta doctus“ posierenden Autors stammenaus einer unprofessionell übersetzten Rowohlt-Monografie. Das Leid, von dem Bernhard berichtet, ist dem unerwünschten Kind aber real widerfahren. Und den Lkw-Führerschein hatte er wirklich, und wenn er auch nicht monatelang Gösser-Bier ausgeliefert hat, so hat er doch mindestens zweimal als Aushilfschauffeur gearbeitet– und dabei den Lkw beschädigt.

Scharf herausgearbeitet hat Mittermayer die Einbeziehung erlebter, wenn auch verfremdeter Konstellationen ins fiktionale Werk. Bekannt war, dass es den Tierpräparator Höller samt Dachkammer real gegeben hat, doch die ungenierte Verwendung der Namen und Charaktere von Menschen, denen Bernhard begegnet ist, überrascht. Wie auch die Zahl der skurrilen, erfunden wirkenden Passagen, die tatsächlich eine reale Grundlage haben. Im „Stimmenimitator“ etwa schafft es der Ich-Erzähler nach einem Empfang in Kairo wegen des Gedränges nicht in den Lift. Zu seinem Glück, denn dessen Seil riss, die Kabine raste in die Tiefe, die Passagiere wurden zerschmettert. Ziehen wir die Bernhard-typische Übertreibung ab, dann widerfuhr Bernhard und seinem Verleger Ähnliches, das Seil riss allerdings ein Stück über dem Boden und niemand kam zu Schaden.

Diese sachliche und kühle Biografie wird ihr Publikum nicht nur unter den Bernhard-Fans, sondern auch unter den Kundigen finden. Über ihr Ablaufdatum und über die denkbare Nachfolgerin kann man nur spekulieren. Wird irgendwo – wie bei Kafka, mit dem nicht nur Ingeborg Bachmann Bernhard verglichen hat – eine Felice Bauer plus umfangreicher Briefe auftauchen, die eine Revision des Persönlichkeitsbildes nötig macht? Oder ist das Biografische auserzählt,und was bleibt, ist der Diskurs über den immer noch wirksamen, legendären Sog der Bernhard'schen Sprache und seiner Fähigkeit, das Theaterpublikum in absurde Konstellationen zu involvieren. ■

Manfred Mittermayer

Thomas Bernhard

Eine Biografie. 452 S., geb., zahlreiche Abb., €28 (Residenz Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)

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