Wen niemand haben will

Wann wird Literatur zum Sachtext, wann kippt Engagement in Sentimentalität? Über Tod, Folter und die Verlorenheit von Flüchtlingen in einer fremden Welt erzählt Jenny Erpenbeck in ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“. Nominiert für den Deutschen Buchpreis.

Mit ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat es die in Ostberlin aufgewachsene Schriftstellerin und Regisseurin Jenny Erpenbeck nicht nur auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft; sie hat sogar gute Chancen, ihn zu gewinnen. Vor allem, weil der Roman über eine prophetische Aktualität verfügt; als die Autorin mit der Arbeit an ihrem Buch begann, bestand das Flüchtlingsproblem zwar schon längst, aber die Zahl der Flüchtlinge hatte bei Weitem noch nicht das ungeheure Ausmaß von 800.000 oder mehr erreicht. Der Titel „Gehen, ging, gegangen“ meint einerseits die Konjugationen des Verbs, die die Flüchtlinge lernen müssen, und ist zugleich das Kürzel ihrer Existenz.

Der Protagonist Richard, ein soeben emeritierter Altphilologe, kreuzt, als er einen befreundeten Archäologen auf einer Ausgrabungsstätte besucht, den Oranienplatz mit einem Zeltlager von Flüchtlingen, die mit Hungerstreik und Schweigen dafür protestieren, nicht getrennt zu werden. Erst im Nachhinein beschäftigt Richard das Gesehene, und er besucht die Männer in ihrer neuen Behelfsunterkunft, einem aufgelassenen Altersheim.

Als Witwer, dem auch die (jüngere) Freundin abhanden gekommen ist, verfügt er über hinreichend Zeit und füllt die Leere, indem er die Schicksale der Flüchtlinge, die dadurch für ihn erst fassbar werden, in seinem Notizbuch festhält. Seine klassische Bildung lässt ihn ihre schrecklichen Abenteuer in einen historischen Rahmen setzen; der gewaltige Raschid aus Nigeria wird zum Blitzeschleuderer, der Tuareg, der erzählt, wie man sich in der Wüste mittels Liedern orientiert, zu Apollo, und Osarobo, den Jungen in der zu dünnen Jacke, wird er Klavier lehren.

Je öfter Richard die Flüchtlinge besucht, ihnen kleine Jobs gibt, sie auf ihren Wegen zu den Behörden begleitet, desto stärker solidarisiert er sich in einer Art Stockholm-Syndrom mit ihnen. Den Umgang mit Texten lebenslang gewohnt, beschäftigt er sich mit den rechtlichen Aspekten, wobei ihm die Ohnmacht der Asylsuchenden gegenüber der Verwaltung und ihren Organen noch stärker auffällt: eine strukturelle Gewalt, die verstärkt wird durch komplizierte Formulierungen und unzureichende Deutschkenntnisse der Adressaten. Der Professor lernt, dass das Dublin-II-Abkommen nur die Zuständigkeit für einen Flüchtling klärt, nicht ob er tatsächlich als einer anzusehen ist. Oder stößt auf den paradoxen Begriff „Fiktionsbescheinigung“, der nichts mit „fiction“ zu tun hat, sondern nur eine Bescheinigung dafür ist, dass jemand zwar nicht als Flüchtling anerkannt, also auch keinen entsprechenden Ausweis hat, aber doch vorhanden ist.

Es herrscht erdrückendes Ungleichgewicht zwischen dem Staat und den Heimatlosen. Manche von ihnen werden Monate, Jahre hin und her geschoben, eine Konterbande, die keiner in Europa haben will. Zwei Kulturen stoßen aufeinander, die des existenziellen Ausgesetztseins der Flüchtlinge und die Administration durch existenziell abgesicherte Beamte, die ihren Job machen, aber für Empathie nicht bezahlt werden.

„Gehen, ging, gegangen“ bewegt sich also zwischen drei Ebenen: Dem Gegensatz zwischen Richards beinah biedermeierlich-bürgerlichem Leben und dem seiner Asyl suchenden Freunde, deren Lebensgeschichten und schließlich dem rechtlichen Rahmen ihrer Auseinandersetzungen mit den Behörden.

Jenny Erpenbecks Erzählmodell mag durchsichtig sein, strukturell ist ihr Buch aber den „Jahrestagen“ Uwe Johnsons, dieses Vorgängers und Landsmannes, gar nicht unähnlich. Es scheint, als ob sich eine nachwirkende DDR in der unbeirrbaren Genauigkeit mit dem pathoslosen Humanismus ihrer Prosa findet. Ohne Effekthascherei erzählt die Autorin von Tod, Folter, Flucht, Unbehaustheit der Flüchtlinge und ihren vergeblichen Anstrengungen zusammenzubleiben, nachdem sie Heimat, Familienangehörige schon weitgehend verloren haben.

Die sorgfältigen Details aus Richards Leben – Einkaufen, Kochen, Treffen mit Freunden, Wahl der Schuhe (no brown in town) oder die Begegnung mit einer jungen, äthiopischen Deutschlehrerin, die Richard sehr gefällt aber nicht mehr auftaucht, nachdem die Flüchtlinge offiziellen Sprachunterricht bekommen – gliedern den Text und entschleunigen ihn, ohne im Geringsten langweilig zu werden. Mit einer in ihren vorigen Büchern entwickelten Geläufigkeit setzt sie Leitmotive, die sich der Reduktion auf simple Symbole entziehen. Aus Details wie dem Titel „Gehen, ging, gegangen“ oder dem Ertrunkenen im See vor Richards Haus, dessen Leiche nicht gefunden wird, entwickelt Jenny Erpenbeck Spannungen in der Tiefe und schwebende Bilder im Hintergrund.

„Gehen, ging, gegangen“ ist zweifellos das engagierteste Buch der aus einer Familie von Schriftstellern – Vater Physiker und Schriftsteller, Mutter Schriftstellerin, beide Großeltern väterlicherseits ebenfalls Schriftsteller – stammenden Autorin, dessen Nominierung auch Ergebnis eines ungewöhnlichen Fleißes, einer gradlinig aufwärts führenden Karriere und einer sich nachtwandlerisch sicher zwischen Lesbarkeit und Anspruch bewegenden Prosa ist.

Vor allem aber lässt sich das Buch in seiner Wucht mit John Steinbecks großem Roman „Früchte des Zorns“ über die hungernden Farmer während der Großen Depression vergleichen. Einiges, was die Autorin in ihrem Buch anprangert, ist allerdings durch die entschiedene Haltung von Bundeskanzlerin Merkel mittlerweile relativiert, wenn nicht aufgehoben.

Jenny Erpenbecks Buch ist bewegend insofern, als die Solidarität Richards mit den Flüchtlingen von der Kritik als naiv, fast als utopisch bezeichnet wurde, nun aber, während der vergangenen Wochen, von einer gewaltigen politischen und humanen Bewegung als realistisch bestätigt worden ist. „Gehen, ging, gegangen“ ist sozusagen zu einem im Nachhinein breit eingelösten moralischen Aufruf geworden. Lässt sich vermuten, dass die ebenfalls aus Ostdeutschland stammende Jenny Erpenbeck ein schreibendes Pendant ihrer Bundeskanzlerin und auf dem Weg zur umgreifend gesamtdeutschen Autorin ist? Damit lässt sich die moralische Dimension des Textes schwer von ihrer literarischen unterscheiden. Implizit stellt Erpenbecks Buch die lästige Frage, was Literatur kann, an welchem Punkt Welthaltigkeit zum Sachtext wird und wann Engagement in Sentimentalität, Kunst in Kunsthandwerk umschlägt.

Als Richard einmal zu Hause von der Erzählung des „Dünnen mit dem Besen“ eingeholt wird, erinnern die archaischen Wiederholungen, die magischen Klagen an Hubert Fichtes Ethnopoesie. Und ihre halluzinatorische Entgrenzung weckt die Ahnung von einer radikaleren, die rationale Teilnahme beiseite lassenden Prosa. ■

Jenny Erpenbeck

Gehen, ging, gegangen

Roman. 244 S., geb., € 20,60 (Knaus Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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