Die Kuppler und der beste Sex des Lebens

Witzig, empathisch und trotzdem mit der nötigen Distanz: Ursula März' Liebespanorama unserer Tage.

Balzac wollte seine gesamte Epochesystematisch in einen Romanzyklus bannen. Ursula März nimmt wichtige Themen unserer Zeit nach und nach literarisch ins Blickfeld: Nach ihrem Band „Fast schon kriminell. Geschichten aus dem Alltag“ (2011), in dem es um Verbrechen ging, legt sie nun eine Sammlung über die Liebe vor: „Für eine Nacht oder fürs ganze Leben“, mit dem Untertitel „Fünf Dates“. Ob es sich dabei um Reportagen handelt oder um erfundene Geschichten, bleibt offen. Vermutlich geht es um Doku-Fiction, eine Mischung aus Realität und Fiktion. In allen fünf Texten trifft sich eine Ich-Erzählerin namens Ursula März mit Menschen auf Partnersuche, die ihr ihre Geschichte erzählen. Sie tritt jedoch nicht, wie es Balzac getan hätte, als objektive Berichterstatterin auf. Der Reiz der fünf „Dates“ besteht zum nicht geringen Teil darin, dass die Ich-Erzählerin auch ihre eigenen Erfahrungen und Liebeserfahrungen einbringt, durchaus mit Selbstironie und Witz.

Charakteristisch für die Liebe heutzutageist offenbar die Tatsache, dass wieder eine Vermittlungsinstanz auftritt. Bei Balzac wäre das ein Heiratsvermittler oder eine Kupplerin gewesen, heute hat vor allem das Internet diese Funktion übernommen; Ursula März spricht von einer „erstaunlichen Renaissance“ des Kuppelwesens. In der ersten Geschichte ist es eine unglaublich nüchterne Agentur in Berlin, die Manfred Hügel, ein erfolgreicher, glücklich verheirateter Ingenieur, kontaktiert. Bis dahin hatte er nur mit wildkatzenhaften Frauen Sex – schlank, dunkelhaarig, ungefähr 60 Kilo Gewicht. Nun wird ihm mit der Architektin Olivia eine Frauvermittelt, die um einiges zu füllig ist – und genau mit dieser Frau erlebt er den besten Sex seines Lebens.

Der Reiz dieser Beziehung liegt möglicherweise gerade in der Unterwerfung unter die Kriterien der Agentur, in der Befreiung vom Druck, selbst eine Wahl treffen zu müssen. In der zweiten Erzählung findet eine 65-jährige Frau, die März als Schalterbeamtin von der Post kennt, in der Rente per Internet einen um vieles jüngeren Partner, den Polizisten Rudi, dem sie anfangs wegen des Altersunterschieds mit großem Misstrauen begegnet. Dann lernen wir den attraktiven Enddreißiger Thomas Lüttich kennen, Internist, der unbedingt vor seinem 40. Lebensjahr eine eigene Familie gründen will und die beiden größten deutschen Internetagenturen auf der Suche nach einer geeigneten Blondine bemüht.

Eine interkulturelle Beziehung wird mit dem „Date“ von Maja Feldkirch thematisiert, die sich im Kuba-Urlaub in einen Salsatänzer verliebt hat, den sie heiratet und nach Deutschland bringt, unter dem Kopfschütteln ihrer Umgebung. Und schließlich besucht Ursula März eine Singleparty in Berlin, wo sie einen nervösen jungen Mann kennenlernt, dem sie durch ihr unkonventionelles Eingreifen zum Kontakt mit der erwünschten Partnerin verhilft. Hier verlässt sie endgültig die Rolle der bloß berichtenden Reporterin und spielt selbst Schicksal.

Die Qualität dieser Geschichten liegt einmal im psychologischen Gespür, das Ursula März für die Personen auf Partnersuche entwickelt, von denen sie sehr differenzierte Porträts zeichnet. Wir lernen auch ihre Verschrobenheiten und Macken kennen, sie werden aber niemals vorgeführt. Interessant ist auch der soziologische Blick: Alle Figuren werden in ihre Milieus eingebettet, und man lernt von der Partneragentur über Internetportale bis zu Singleparties die zeitgenössischen Vermittlungsbörsen kennen.

Besonders reizvoll sind die Geschichten aber durch Ursula März' persönliche Auslassungen und Einmischungen, die sie kunstvoll mit den Geschichten der Partnersuchenden verwebt, etwa wenn sie den Blondinensturm um Thomas Lüttich mit der Vorliebe ihrer Vorfahrinnen für schwarzhaarige Männer kontrastiert. Komplettiert werden diese auch sehr unterhaltsamen Erzählungen mit Reflexionen etwa über die Mechanismen der Liebeswahl oder über die Freiheit in der Liebe.

Entstanden ist ein Liebespanorama unserer Zeit, informiert, voller Witz, empathisch und trotzdem mit der nötigen Distanz. ■

Ursula März

Für eine Nacht oder fürs ganze Leben
Fünf Dates. 232 S., geb., € 20,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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