Pawel und der Papagei

„Die Kugel auf dem Weg zum Helden“: Andrej Kurkow beendet seine unterhaltsame Trilogie mit Pawel Dobrynin, der wie ein „roter Parzival“ durch den Lauf der Geschichte stolpert. Gogol und Bulgakow grüßen von ferne.

Dagegen lässt sich leider nichts machen: Bei einer angekündigten Romantrilogie ist nach dem dritten Band unerbittlich Schluss! So auch bei Andrej Kurkows Projekt „Geografie eines einzelnen Schusses“, das nach dem Start mit „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“ (Aufbau der Sowjetmacht) über den Mittelteil „Der unbeugsame Papagei“ (Überleben im Zweiten Weltkrieg) mit „Die Kugel auf dem Weg zum Helden“ (Nachkriegszeit) nun am Ende angelangt ist. Also adieu, Pawel Dobrynin (in seinem Familiennamen steckt schon das slawische Wort für gut, dobro) und ihr anderen Figuren, deren Erlebnisse durch Jahrzehnte man auf über 1000 Seiten mitverfolgen durfte.

Nuklei des Geschehens sind: der biedere Pawel, der aus einem entlegenen Provinznest nach Moskau gerufen wurde, um als Kontrollor Fehlentwicklungen und Korruption in der noch jungen Sowjetunion aufzudecken. Der nicht sehr talentierte Mime Mark Iwanow, der mit seinem souverän Gedichte rezitierenden Papagei Kusma überall im Land Auftritte hat – und Ängste, sein gefiederter Kollege könnte einmal politisch unerwünschtes Reimgut von sich geben. Eine Gruppe unzufriedener Kolchosbauern, die einem Stern folgt, um das „Neue Gelobte Land“ zu suchen und zu besiedeln, der sich auch Deserteure und Desperados anschließen. Der obrigkeitshörige Schuldirektor Banow, der sich nicht nur in erotische Verwirrungen verstrickt, sondern auch eine erstaunliche Entdeckung machen muss. Tief unter dem Kreml befindet sich ein seltsames Gelände: ein nachgebautes Klein-Russland, in dem der noch lebende greise Lenin seine letzten Lebensjahre verbringt – Banow wird sein Sekretär. Weiters: eine Kugel, die um die Welt fliegt, um einen Helden zu treffen. Und ein Engel, der die himmlischen Gefilde verlassen hat, weil ihm aufgefallen ist, dass kein Sowjetbürger je dorthin gelangt ist. Nun will er dieses seltsame Land selbst erkunden und schließt sich den Siedlern an.

Im zweiten Teil waren die Risse im Sowjetsystem samt Zunahme der Korruption schon sichtbarer geworden; bei den zuerst solidarischen Siedlern bildeten sich Bürokratie und Hierarchie heraus, die Streitereien unter ihnen nahmen zu. Besonders schlimm traf es den Mimen Mark mit seinem Papagei: Kusma hatte bei einem Auftritt beim Allunionskongress der Kaninchenzüchter ein Majakowski-Gedicht politisch verhunzt – ausgerechnet vor dem anwesenden Staatspräsidenten Kalinin (der in Kurkows Trilogie stets nach seinem Geburtsort Twer Twerin genannt wird). Das bedeutete Gefängnis für Mark und Kusma.

Im Abschlussband sind beide wieder in Freiheit, aber Kusma hat in der Haft neue Lyrik kennen- und schätzen gelernt. Gern rezitiert er sie auch bei Auftritten. Ein Sprachwissenschaftler der Akademie ist davon begeistert und vermutet als Autor einen anonymen Dichter hinter Gittern. Doch es mehren sich die Anzeichen, dass Kusma selbst der Verfasser ist. Ein Kusma-Poem wird sogar eingereicht, als die Sowjetunion einen neuen Text für ihre Hymne sucht. Und siegt! Doch als die Wahrheit auffliegt, wird der Wissenschaftler sofort als Botschafter nach Luxemburg versetzt. Die Siedlerbewegung ist praktisch zerfallen, der Engel zunehmend enttäuscht. Und der brave Pawel muss Streit schlichten in einem geheimen Forschungslabor, in dem künstliche Eisenmeteoriten als Ersatzbomben für den Kalten Krieg produziert werden – das System ist noch nicht ganz ausgereift und durch persönliche Eitelkeit gefährdet. Pawels Kampf wider das Böse erlahmt auch fürderhin nicht – und so ist es besonders traurig, dass ihn nach weiteren guten Taten die seit Jahrzehnten um den Erdball fliegende Kugel trifft. Just, als er im eiskalten Fluss Dnjepr einen Buben vor dem Ertrinken rettet. Das ergibt ein Begräbnis an der Kremlmauer, gleich neben seinem früheren Förderer Twerin. Pawels Asche wird mit der russischen Erde vermischt, darauf eine Birke gepflanzt. Der tote Pawel hingegenwird auf seinem Weg ins Jenseits von zwei miteinander streitenden Engeln umworben. Der diabolische will ihn ins Sowjetparadies locken, unser schon bekannter Engel aber in das wirkliche Paradies, da Pawel als einziger Gerechter der Sowjetunion darauf ein Anrecht habe. Doch Pawel geht auch hier unbeirrt seines Weges.

Der Groß-Fabulierer Andrej Kurkow (literarische Ahnen sind unter anderm Gogol und Bulgakow) geißelt in seiner satirischen Trilogie den Grundfehler von Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft: den klaffenden Widerspruch zwischen verkündeten hehren Zielen der Propaganda und dem realen Verhalten der Personen. Die rühmliche Ausnahme ist sein Held, Pawel Dobrynin, ein parzivalesker Gutmensch, der durch das von Eitelkeit, Bösartigkeit, Herrschsucht, Korruption und anderen menschlichen Fehlern verminte Gelände mit kindlich-ehrlichem Glauben stolpert. In Notfällen hat er ja stets das Büchlein „Lenin für Kinder“ zur Hand, das ihm Trost spendet – sogar in der letzten Stunde. Seine bizarren Mit- und Gegenspieler – etwa der dissidente Engel, der seinen himmlischen Arbeitsplatz verließ, um einen Gerechten zu finden, wobei ihm die um die Weltfliegende Kugel zu Diensten war – atmen den Geist des magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren, der mit Mythen und Unwahrscheinlichkeiten lächelnd spielt.

Souverän bündelt der Autor die einzelnen Erzählstränge zu einem berückenden Kaleidoskoproman, in dem einzelne von Gags zu Kurzgeschichten erweiterte Passagen wie Edelsteine funkeln. Etwa der Abschnitt des geheimen Meteoritenprojekts. Da schlagen die künstlichen Bomben erst im Nirgendwo, dann in Polen, später in der DDR ein, bevor sie zum Schluss ein Offizierskasino in Kentucky treffen, was zu internationalen Verwicklungen führt. Hat doch ein sich zu wenig anerkannt fühlender Ingenieur seine Initialen auf dem Geschoss hinterlassen. An den Zufall zyrillischer Buchstaben auf dem Müll aus dem All glauben nicht einmal die Amis. Fazit: ein wärmendes Buch für die nächste Kältewelle. ■

Andrej Kurkow

Die Kugel auf dem Weg zum Helden

Roman. Aus dem Russischen von Claudia Dathe. 392 S., geb., € 22,90 (Haymon Verlag, Innsbruck)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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