17.000 Inseln und eine rote Bluse

Indonesien ist nächste Woche Gastland der Frankfurter Buchmesse. Über die Ambivalenz der indonesischen Gesellschaft angesichts einer blutigen Vergangenheit und über die Literatur aus einer sehr fernen Welt.

Das verführerische Motto, unter dem heuer Literatur aus Indonesien zur Buchmesse geladen wird, lautet: „17.000 Inseln derImagination“, und angesichts fehlender historischer und geografischer Einblicke mangelte es uns bisher tatsächlich an Vorstellungskraft. Oder wussten Sie, dass sich2015 das antikommunistische Massaker zum 50. Mal jährt, mit dem Diktator Suharto ein Regime einleitete, das eine Vielzahl von Inseln, Kulturen, Sprachen und Religionen mittels Unterdrückung zu einen versuchte?

Ach ja, Sie haben den Dokumentarfilm „The Act of Killing“ gesehen, in dem die Täter aufgefordert wurden, tödliche Szenen nachzustellen? Die gruselige Unbekümmertheit der Mörder spiegelt die Ambivalenz der indonesischen Gesellschaft angesichts einer blutigen Vergangenheit wider, in der die Farbe Rot mehrfache Bedeutungen annimmt. Darauf spielt auch der Titel des Romans „Alle Farben Rot“ von Laksmi Pamuntjak an. Am Tag, als Amba ihren Geliebten Bhisma zu einer Kundgebung von Kommunisten begleitet, trägt sie eine rote Bluse. Es ist der Tag, an demdie Massaker beginnen, denen 500.000 Menschen zum Opfer fallen werden.

Eigentlich ist die schöne Amba bereits mit dem verlässlichen Salwa verlobt, dem sie aber kaum mehr als Respekt entgegenbringen kann. Als sie sich entschließt, in einem Krankenhaus als Übersetzerin zu arbeiten, während Salwa auf einer weit entfernten Insel Lehrer ausbildet, verliebt sie sich in den Arzt Bhisma, der während seines Studiums in Leipzig mit kommunistischen Ideen in Berührung kam. Bald verbringen sie die Nächte miteinander, finden Vergessen im gegenseitigen Genießen ihrer Körper.

Doch außerhalb der sinnlichen Begegnungen zeigt sich Amba unsicher gegenüber dem weltläufigen Arzt. Bhisma wuchs privilegiert im postkolonialen Indonesien und in den Niederlanden auf, ein Mann zwischen Denksystemen und Kulturen, mit dem Ziel, die Entwicklung des eigenen Landes voranzutreiben. Die Liebesnächte mit Amba bieten ihm nur kurz Ablenkung, bis die politischen Ereignisse alle überrollen. Bhisma landet auf der berüchtigten Insel Buru, einem Lager für politische Gefangene, während Amba die gemeinsame Tochter Siri aufzieht, einen Europäer heiratet und bis ins Alter ohne Nachricht vom Geliebten bleibt. Liebe, erschwert durch Krieg und zusätzlich bestimmt durch eine Passage aus dem klassischen indischen Mahabharata. Zwei Männer und eine Frau: Salwa, der die Frau nicht bekommt, die er liebt, und Bhisma, mit dem die begehrte Amba nicht zusammenkommen kann. Ihre Namen geben das Schicksal der Protagonisten vor, nicht aber die Umstände, unter denen dies geschieht.

Kriminalisierung des Geschriebenen

In Buru, dem tropischen Verbannungsort, trifft Bhisma mit den politischen Gegnern Suhartos zusammen, meist Rechtsanwälten, Historikern, Intellektuellen, religiösen Führern. Ihre Aufgabe ist es, die Insel fruchtbar zu machen, sie zu roden, zu bebauen, Unterkünfte zu errichten. Viele gehen dabei vor Erschöpfung, Hunger oder der Grausamkeit der Wärter zugrunde. Erst Ende der Siebzigerjahre wurden die Gefangenen befreit, viele blieben dort, weil ihnen zuletzt erlaubt worden war, ihre Familien nachkommen zu lassen. So auch Bhisma, der als Heiler und Arzt für die Einheimischen arbeitet. Nachdem Ambas Ehemann gestorben ist, begibt sie sich mithilfe eines jungen Mannes auf die Suche nach dem Geliebten.

Über Buru berichtete schon der dort internierte Autor Pramoedya Ananta Toer. Da Schreibwerkzeug verboten war, komponierte er seine Bücher im Kopf und trug sie Mitgefangenen vor, um sicherzugehen, dass ihr Inhalt im Falle seine Todes durch das Gedächtnis der anderen weitergetragen würde. Der zweite Band seiner Tetralogie „Kind aller Völker“ wird diesen Herbst aus Anlass des Indonesien-Schwerpunkts wieder herausgebracht. – Die Kriminalisierung des geschriebenen Worts thematisiert auch „Alle Farben Rot“. Die Gefangenen verfassen heimlich Briefe an ihre Angehörigen, die sie aber nie abschicken können, stattdessen in Bambusrohren verstecken oder unter Bäumen vergraben. Ein Mitkämpfer Bhismas rettet nach der Auflösung des Camps alle Briefe, die der Arzt an seine Geliebte Amba geschrieben hat und übergibt sie ihr, als sie auf die Insel kommt. So erfährt sie über seinen schweren Alltag im Lager.

Ihre Suche nach dem weiterhin verschwundenen Geliebten wird jedoch von den Behörden verhindert. Noch immer ist es unmöglich, sich einigermaßen ungehindert auf Buru zu bewegen. An alte Verbrechen sollnicht gerührt werden, da die Täter längst in ihr normales Leben zurückgekehrt sind. Erst der Generation nach den politischen Unruhen kann es gelingen, ungestraft vielfache Schattierungen von Farben wahrzunehmen, wie Ambas Tochter, die als Künstlerin arbeitet, feststellt: „Zu Hause, als Kind, war ich umgeben von allen Farben Rot – Granatapfelrot, Erdbeerrot, Feuerrot, Korallenrot, Karminrot, Signalrot, Orangerot, Rubinrot, Weinrot, Lachsrot, Magentarot – anfänglich ohne deren Namen zu kennen. Und das habe ich meiner Mutter zu verdanken. Sie hat mir alles nahegebracht und mir gezeigt, dass ich mich nicht zu fürchten brauche, sei es vor einer Farbe oder etwas anderem.“

Romane über Regionen, die wir im Westen kaum kennen, transportieren zwangsläufig eine Menge geschichtlicher Fakten, wie auch der zweite große Romantitel der Saison,Leila S. Chudoris „Pulang“, oder sie konzentrieren sich auf einen autobiografischen Fall, wie Andrea Hiratas „Regenbogentruppe“, in dem er seinen Aufstieg vom Bergarbeitersohnzum Literaturstar nachzeichnet. Pamuntjak und Chudori verfolgen einen aufklärerischenWeg und sind prototypisch für postkoloniale Romane, die politische Gräuel aufarbeiten, um den Blick auf die Gegenwart zu verändern. Dass so viel erläutert werden muss, belastet das Erzählen zuweilen.

„Alle Farben Rot“ steuert dem mit einer heftigen Liebesgeschichte entgegen, deren Beständigkeit und Kraft manchmal mehr behauptet als spürbar wird. Andererseits sind die Darstellungen der Gefängnisinsel atmosphärisch gelungen, die Liebesszenen überzeugend, auch die Zerrissenheit des Arztes zwischen Pflicht und Neigung, zwischen europäischen Werten und einheimischen Notwendigkeiten wird anschaulich. Nur die Unmengen von Parteinamen und politischen Gruppierungen der Sechzigerjahre machen die Lektüre zeitweise etwas holprig. Dafür aber wird der Leser durch aufschlussreiche Bilder und ungewöhnliche Metaphern zu Farben und Licht entschädigt. Und nicht zuletzt ist auch die Flagge Indonesiens in Rot und Weiß gehalten. Oder haben Sie das gewusst? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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