Angezogene Schrauben

US-Korrespondent Evan Osnos begleitete Chinesen aus diversen Milieus durch ihren Alltag.

Man muss es US-amerikanischen Spitzenjournalisten lassen: Wenn sie Bücher schreiben, suchen sie nach noch unerschlossenen, originellen Zugängen zu einem Thema, um breites Interesse zu wecken. Für Berichterstatter, die als Korrespondenten nach China geschickt wurden, gilt das offenbar besonders. Da wird nicht einfach nur linear Erlebtes und Beobachtetes beschrieben, sondern versucht, den Lesern Fenster für einen Blick auf das aufgeladene und hektische Geschehen dort zu öffnen.

Peter Hessler gab vor ein paar Jahren mit seinem China-Buch „Über Land“ ein gutes Beispiel. Der langjährige Korrespondent des „New Yorker“ nahm die Leser mit auf seinen Autoreisen durch das Land und beschrieb, wie der Straßenbau, die Automobilisierung und Industrialisierung Dörfer und Städte in rasendem Tempo in die Moderne katapultierten. Evan Osnos, ebenfalls für den „New Yorker“ sowie für die „Chicago Tribune“ in Peking tätig, versucht die Annäherung an China mit Texten zu den Leitbegriffen: Wohlstand, Wahrheit, Glaube.

Wie schon Hessler begleitete Osnos dabei über Jahre hindurch mehr oder weniger bekannte Chinesen durch ihren Alltag: etwa den aus Taiwan geflohenen Offizier, der es in der Volksrepublik zum führenden Wirtschaftswissenschaftler brachte. Den anfänglich noch ziemlich unerschrocken agierenden Bloggern und und Magazinjournalisten machte es die Zensur von Jahr zu Jahr schwerer. Der blinde Anwalt Chen Guangcheng und der Großkünstler Ai Weiwei: Osnos trug mit seinen Berichten zu ihrer Popularität in der westlichen Welt bei. Er fragt dann aber doch selbstkritisch, was diese Berichte über das durch staatliche Repression verursachte Leid dieser Berühmtheiten eigentlich über China aussagen.

Zurück zum Feudalismus

Natürlich geht Osnos auf die brennenden Probleme der chinesischen Gesellschaft ein: die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich („China ist 100 Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs zu einer Form des Feudalismus zurückgekehrt“); die wuchernde Korruption, durch die das Land jährlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbüßt (2012 verfügten die 70 reichsten Mitglieder des Volkskongresses zusammen über Nettovermögen von mehr als 90 Milliarden Dollar); das Anziehen der Repressionsschrauben und der Kontrollwahn der Partei, der mit Xi Jingping noch ärger geworden ist („Unter Xi zeigte die Partei weiterhin nicht die geringsten Anzeichen für einen Verzicht auf die ideologischen Verrenkungen“).

Folge: Durch den wieder stärker werdenden Druck von oben wächst eine Kultur des Misstrauens in der Bevölkerung, Partei und Volk entfremden sich („Während die Gesellschaft vielfältiger, lauter und unbekümmerter wurde, wurde die Partei homogener, zugeknöpfter und konservativer“). Staatliche Propaganda soll diese Entfremdung übertönen, doch auch sie stößt auf wachsende Skepsis. Diese geht einher mit wachsender Teilnahmslosigkeit und moralischer Verrohung in der Großstädten – was andererseits bei vielen die Sehnsucht nach Ethik, Moral und spirituellem Halt weckt.

Freilich, gerade im dritten Teil zum Thema Glaube geht Osnos doch etwas die Luft aus, die Lektüre wird etwas zäher. Dennoch: insgesamt ein ausgesprochen lesenswertes Chinabuch, das die Zerrissenheit und Widersprüche dieser Gesellschaft sehr gut darstellt. ■

Evan Osnos

Große Ambitionen

Chinas grenzenloser Traum. Aus dem Amerikanischen von Laura Su Bischoff. 534 S., geb., € 25,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2015)

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