Schatten über dem Alpenland

In ihrer dokumentarischen Fiktion „Sonnenschein“ erzählt die kroatische Autorin Daša Drndic vom Überleben einer jüdischen Frau in der Hitlerzeit und vom Aufwachsen ihres Sohns in einem Lebensborn-Heim.

Schloss Oberweis (Gemeinde Laakirchen im Bezirk Gmunden, Oberösterreich) hieß von 1943 bis 1945 ,Alpenland‘, und in ihm lebten Kinder, überwiegend kleine Kinder, überwiegend geraubte Kinder, überwiegend aus Jugoslawien und dem adriatischen Küstenland geraubte Kinder“, heißt es im Roman „Sonnenschein“ von Daša Drndić. Diese und andere Fakten hat die kroatische Autorin in langjähriger Recherche zu einem Buch zusammengefasst, das eher ein Dossier als eine durchgängige Erzählung ist.

Ausgangs- und Schlusspunkt bildet die Figur Haya Tedesco, die 83-jährig in ihrem Zimmer vor einem Korb mit Dokumenten und Erinnerungsstücken sitzt, um die Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren und auf die Ankunft des seit 60 Jahren vermissten Sohnes zu warten. Dieser war als Baby aus dem Kinderwagen gestohlen und in jenem Stützpunkt der Aktion Lebensborn untergebracht worden, die den Nazis genügend Nachschub an vollkommen ihrer Ideologie entsprechenden Menschen liefern sollte.

Haya hingegen wuchs in der slowenischen Grenzstadt Gorica auf, deren wechselnde nationale Zugehörigkeit durch ihre verschiedenen Namen, Gorizia (italienisch) und Görz (deutsch) bezeichnet ist. In der am Isonzo, an der Grenze zu Italien, gelegenen Stadt verlief ab 1945 die Grenzlinie quer über den Bahnhofsvorplatz. Erst seit dem Beitritt Sloweniens zum Schengen-Abkommen am 1. Mai 2004 ist der Platz ohne Umstände zu überqueren.

Hayas jüdische Familie hat es geschafft, im aufkommenden Faschismus und während der Schreckensherrschaft der Nazis unbehelligt zu bleiben, indem sie sich, wie die Autorin schreibt, nicht vor dem, sondern im Nationalsozialismus versteckt hat. Bystander nennt Daša Drndić dieses Phänomen, das zwar einerseits das Überleben sichert, andererseits den Verdacht von passiver Mittäterschaft nie abschütteln kann. Das aufzudecken, um sich und die Familie von Schuld zu entlasten, bildet den Antrieb ihrer Erinnerungsarbeit.

Denn die junge Frau machte sich auch schuldig, weil sie sich vom geschönten Frauenbild der Nazi-Propaganda in Form von Filmschnulzen verführen ließ und in den
SS-Mann Kurt Franz verliebte, den es im Gegensatz zur Figur Hayas tatsächlich gab. Kurt Franz war vom gelernten Koch in diversen Euthanasie-Anstalten zum letzten Lagerkommandanten des Vernichtungslagers Treblinka aufgestiegen und verbrachte danach einige Zeit in Görz. Bekannt wurde er durch seine besondere Grausamkeit und die Veröffentlichung eines Erinnerungsalbums mit Fotos aus seiner Zeit in Görz und Triest, das er verharmlosend „Schöne Zeiten“ betitelte. Das gemeinsame Kind, im Roman Hans Traube genannt, erzählt vom Aufwachsen im Kinderheim Alpenland, was der Autorin Anlass bietet, ihn mit dem in der Nähe ansässigen Thomas Bernhard in Verbindung zu bringen und den Autor zum Mahner gegen das Vergessen der unaufgearbeiteten österreichischen Nazi-Verbrechen zu stilisieren – ein Schlenker, der nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Aber es passiert der 1946 in Zagreb geborenen Autorin und Dramatikerin zuweilen, dass sie sich in der Überfülle des gesammelten Materials erzählerisch verliert.

Besser gelingt es ihr, Originaldokumente zusammenzustellen und für sich bestehen zu lassen, ohne allzu große Intervention und Interpretation. Es gehe darum, so Haya, so die Autorin, zu zeigen, dass hinter jedem Namen der jüdischen Opfer des Nazi-Regimes eine Geschichte stecke. So lautet zumindest der Refrain des aufwendigen Unternehmens. Zu fragen bleibt allerdings, ob das Motto mit diesem Buch eingelöst wird. Eigentlich kann es nur ein Anfang oder ein Hinweis darauf sein, dass es weiterhin viele Namen gibt, deren Geschichten wir uns immer noch nicht vergegenwärtigt haben. Drndić greift in ihrem Vorhaben auch zu drastischeren Mitteln, wie einer Namensliste von in der Region getöteten Juden, die sich alphabetisch geordnet über 70Seiten zieht, ein Memorial, unkommentiert. In der kroatischen Originalversion ist dieser Teil als eigenes Heft mit perforiertem Papier am Hauptbuch des Romans befestigt. Trennt man es heraus, bleibt eine Lücke als sichtbarer Beweis.

Ähnlich haptisch wird im Original mit den Täterprofilen verfahren. Sie befinden sich, gelistet wie Karteikarten, hinter nicht aufgeschnittenen Seiten, die sich der Leser gewissermaßen selbst erschließen kann. Ein Verweis auf Archive, die bis heute nur zum Teil öffentlich zugänglich sind, was Drndić besonders am Beispiel des Vermisstenarchivs des Roten Kreuzes als deutsche Verschleierungstaktik unter dem Vorwand des Schutzes von Personenrechten anprangert.

Sie selbst nennt ihr Vorgehen dokumentarische Fiktion, sieht sich im Austausch mit anderen Autoren und Büchern. Daša Drndić gibt die Autorität des objektiven historischen Erzählers auf und bringt viele verschiedene Wahrheiten zum Sprechen, wie sich an der Vielfalt von Materialien zeigt, die in „Sonnenschein“ zu finden sind: Fotos, Zeitungsausschnitte, Plakate, Gedichte, Zeugenberichte, Karteikarten, Fußnoten, Kriegstrophäen, Landkarten, Träume, Verhörprotokolle et cetera.

Demnach gestaltet sich die Lektüre als Auf und Ab, als Aha-Erlebnis und Wiederholung von bereits Gewusstem, als Grenzgang zwischen Faszination und Ärger, dass hier keine eindeutigen Zuschreibungen vorgenommen werden. Möglich, dass sich Historiker an Drndićs Umgang mit den Fakten reiben; so heißt es etwa entgegen Drndićs Behauptung in einer Arbeit von Ines Hopfer, die zum Gmundener Lebensborn geforscht hat, dass dorthin vorwiegend Kinder aus den besetzten Gebieten Polens und der Tschechoslowakei gekommen sind.

Die Autorin hingegen betrachtet die von ihr gesammelten Geschichten als offenes Archiv, wie sie in einem Gespräch bemerkt. Nach der Veröffentlichung habe sie Briefe von Enkeln der Toten erhalten, deren Namen sie in kommende Ausgaben einfügen wolle.

In diesem Sinn handelt es sich bei „Sonnenschein“ auch um eine Überschreitung üblicher Buchformate. Beeindruckend ist das allemal; im englischsprachigen Raum wurde Drndićs Roman bereits hochgelobt. In Deutschland ist sie damit auf die Shortlist des Internationalen Literaturpreises gelangt und gewinnt so hoffentlich Aufmerksamkeit. Schloss Oberweis dient derweil den Festwochen Gmunden als sommerliche Spielstätte, ohne jeden Hinweis auf dessen Geschichte. ■


Am Montag, den 19. Oktober findet in der Wiener Alten Schmiede, Schönlaterngasse 9, in Anwesenheit der Autorin um 19 Uhr eine zweisprachige Lesung aus Daša Drndić' Roman statt.

Daša Drndic

Sonnenschein

Roman. Aus dem Kroatischen von
Brigitte Döbert und Blanka Stipetic.

400 S., geb., € 24,70 (Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2015)

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