Das Meer über den Köpfen

In seinem Roman „Was kommt“ verknüpft Thomas Stangl zwei Epochen durch zwei Figuren. Changierende Erzähltechnik sorgt für sprachliche Schönheit.

In meiner Schulzeit besaß ich einen Trenchcoat, dessen Stoff, je nachdem, von welcher Seite man ihn betrachtete, unterschiedliche Farben aufzuweisen schien. Man nennt solche Stoffe „changierend“. Dies ist auch das Wort, das mir zuerst einfällt, soll ich Thomas Stangls Roman „Was kommt“ charakterisieren. Es gilt für die Erzähltechnik im Ganzen: Kaum meint man, einen Gedanken, eine thematische Spur, eine narrative Zielrichtung erfasst zu haben, werden sie durch einen anderen Gedanken, eine andere Spur unterbrochen, in eine andere Richtung gelenkt. Und es gilt für die ein-
zelnen Sätze: Die zwingen in eine Einheit, was nicht zusammenzugehören scheint, düpieren die Lesererwartung, dementieren auf der semantischen Ebene, was die Syntax einzuhalten verspricht, das heißt: Sie changieren. Dies erzeugt faszinierende sprachliche Schönheit, sorgt aber für eine mühsame Lektüre. Denn kaum glaubt man einen Fixpunkt gefunden zu haben, von dem aus man sich orientieren kann, wird man mit einer Wendung, einem neuen Topos konfrontiert. Die schlichte Verfolgung dessen, „was geschieht“, ist hier nicht möglich.

Ein Beispielsatz zur Versinnlichung dessen, was gemeint ist: „Wirklich sind die Treppenhäuser und die Korridore im Inneren der Bauten, wirklich sind die Rufe, die von der Straße hereindringen, kleine zurückbleibende Gesten (der über die Schulter geworfene Zopf eines Mädchens in der Schulbank, der Haarschopf eines Jungen, der auf einer Straße am Donaukanal sitzt, eine Zigarette anzündet und weiterreicht), wirklich sind auch die Kaffeehäuser, die Katakomben unter den Kaffeehäusern, ein geheimes Leben, Sätze, die es nicht in die Zeitungen schaffen (kleine ausgeschnittene Kreise, als gäbe es das Feindesland nicht, die lauernden Nachbarn).“

Dieser Eigenart des Nebeneinander von Heterogenem, des bruchlosen Übergangs von einem Motiv zum anderen entspricht auf der Ebene der Satzzeichen die Klammer. Sie markiert Parenthesen, die assoziativ einfügen, was sich im eigentlichen Satz nicht unterbringen lässt. Der zitierte Beispielsatz verrät: Was sich als Handlung aus dem Verwirrspiel allmählich herausschält, spielt in Wien (und zwar in der Leopoldstadt) kurz vor dem Anschluss ans Dritte Reich – ein Teil der Geschichte, der in der österreichischen Belletristik erstaunlich selten thematisiert wurde. Er liefert auch in Stangls Roman nicht den Stoff, sondern bis kurz vor dem Ende nur Kolorit, eine Kulisse („Wien ist eine Kulisse“, heißt es an einer Stelle). Erst am Schluss, im vierten Teil, der gerade 35Seiten umfasst, rückt die historische Erfahrung ins Zentrum. „Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei, sagt Doktor Steinitz, Geschichte heißt, das kommt erst.“

Aber auch die Zeit changiert hier. In einem einzigen Absatz finden eine Jeansjacke, ein Füllfederhalter und ein in eine Zellophanhülle gepacktes Wurstbrot, vage Signale einer anderen Epoche, zusammen. Hat man das Wurstbrot wirklich in Zellophan eingewickelt und nicht in ein Plastiksackerl gesteckt, als Jeansjacken schon getragen und die Füllfedern noch nicht vom Kugelschreiber abgelöst wurden? Es spielt keine Rolle, denn „wie die Leute in dieser Stadt leben und miteinander umgehen, so leben sie (von Kriegen, Terroranschlägen, kleinen Hungersnöten unterbrochen) seit Jahrzehnten und Jahrhunderten“. Verknüpft wird die eine Geschichte aus der Zeit des Systems, das seine Anhänger Ständestaat und seine Gegner Austrofaschismus nennen, mit einer zweiten, die Jahrzehnte später stattfindet, durch zwei Figuren, die nicht mehr verbindet als eben die Tatsache, dass Leute in dieser Stadt seit je auf die gleiche Art leben. Der Ansatz bekundet einen Geschichtspessimismus, den Stangl, Jahrgang 1966, mit vielen Autoren seiner Generation teilt. Der Fortschrittsglaube, der die vorausgegangene Generation leitete, wurde durch die reale Entwicklung desavouiert.

Emilia heißt die zentrale Figur von 1937, Andreas jene aus der zweiten Jahrhunderthälfte. Schüler sind sie beide, auf dem Weg zum Erwachsenwerden, umgeben von echten und eingebildeten Gefährdungen und einer existenziellen Melancholie, von Alltäglichem, das ihnen als bedeutsam erscheint. Für beide ist die Großmutter die wichtigste Bezugsperson. Einzelne Sätze, solche etwa, die körperliche Reaktionen auf eine ungewöhnliche und daher auffallende Art beschreiben, durchziehen den Roman leitmotivisch. In den Katakomben unter den Kaffeehäusern (siehe oben!) besucht Emilia, was sich als Jura Soyfers Stück „Vineta“ identifizieren lässt. „Keiner stirbt, die Zeit ist auf-
gehoben, keine Handlung, kein Satz hat eine Bedeutung, sobald er ausgesprochen ist,
zerrinnt er schon, alles kann vergessen werden; wirklich ist nur das Meer über den Köpfen.“ Thomas Stangl hat beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2007 für einen Ausschnitt aus seinem Roman den Telekom-Preis erhalten. Ob der Verlag gut beraten war, als er sich entschloss, mit Jurorenaussagen wie den folgenden zu werben, sei dahingestellt: „Ich bewundere diesen Text“, „Mir imponiert der Text sehr“, „Das ist eine Literatur, in der ich mich sehr frei fühle“. Solche Floskeln, die auf die Odyssee ebenso anwendbar sind wie auf „Hamlet“ oder „Schloss Gripsholm“, teilen den Adressaten, also dem Autor selbst und den Beobachtern in Klagenfurt und vor dem Fernsehapparat, die den Text gerade gehört haben, mit, wie spezialisierte Leser auf ihn reagieren. Zur Information für den noch zu gewinnenden Leser sind sie ungeeignet.

Als improvisierte mündliche Bekundungen von Kritikerbefindlichkeiten, die nur über die narzisstischen Redner, nicht aber über den Text etwas besagen, mögen solche Bekenntnisse ja noch hingehen. Hinter der Sprache des Beurteilten bleiben sie meilenweit zurück. Statements dieses Kalibers sind ihrem Gegenstand nicht gewachsen. Es wäre an der Zeit, dass die Autoren die Juroren benoten. Aber die haben wohl Besseres zu tun. Es gibt eine Welt jenseits von Klagenfurt. Wenn man Glück hat, wie bei Stangl, gerinnt sie zu Literatur.

P.S.: Von Marie Frischauf, der Librettistin von Arnold Schönbergs „Erwartung“, existiert ein Roman aus dem Jahr 1949 mit dem Titel „Der graue Mann“. Er ist formal misslungen. Aber er bleibt interessant als Versuch, den Übergang vom Austrofaschismus zum Nationalsozialismus an Einzelschicksalen zu dokumentieren. Man wünschte sich einen heutigen Roman, der Frischaufs Thematik mit der Sprachvirtuosität Thomas Stangls erneut aufnimmt. Woran liegt es, dass es ihn nicht gibt? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2009)

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