Viel blieb auf der Strecke

Mitunter ärgerlich, doch immer faszinierend. „Das bessere Leben“: Ulrich Peltzer beschreibt das Zerplatzen visionärer Träume anhand des Zusammentreffens zweier nun alt und saturiert gewordener Männer.

Es gehört zu den feuilletonistischen Merkwürdigkeiten, dass selbst professionelle Literaturkritiker inzwischen Ermüdungserscheinungen und Unwillen zeigen, sobald die Gegenstände ihrer Analysen nicht gängigen Mustern folgen und nicht leicht konsumierbare Unterhaltung bieten. Ganz so, als habe es die Revolution des modernen Romans – mit Joyce, Proust, Woolf oder Musil – nie gegeben und als sei es eine Zumutung, wenn die Lektüre eines Buches ästhetisch-intellektuelle Herausforderungen stellt. Der 1956 geborene Heinrich-Böll-Preisträger Ulrich Peltzer zählt zu den – nicht zahlreicher werdenden – Autoren, die sich von diesem Zeitgeistflirren nicht beirren lassen. Er legt seine Werke nicht im marktgängigen Zweijahresrhythmus vor, sondern lässt sich Zeit. Acht Jahre sind verstrichen, seitdem er „Teil der Lösung“ vorgelegt hat, acht Jahre, die offenbar nötig waren, bis er seinen neuen, komplexen Gesellschaftsroman, „Das bessere Leben“, abschließen konnte.

Was sich Peltzer darin vorgenommen hat, ist nicht wenig: Er will einerseits beleuchten, was die kapitalistische Welt des frühen 21. Jahrhunderts ausmacht, und andererseits verständlich machen, wie deren Akteure wurden, was sie sind. Ohne eine übergeordnete Erzählerinstanz zu etablieren, wechselt Peltzer in rascher Folge die Perspektiven seines gut acht Jahrzehnte umfassenden Stoffes. Protagonisten des das eine Mal in Turin oder in São Paolo, das andere Mal in Amsterdam oder am Niederrhein spielenden Geschehens sind zwei Männer in den Fünfzigern, die das riskante kapitalistische Wirtschaften mit realen oder irrealen Objekten bestens verinnerlicht haben: Sylvester Lee Fleming, der weltweit mit obskuren Versicherungen dealt, und Jochen Brockmann, der als Sales Manager für eine italienische Firma „Anlagen zur Beschichtung und Lamination von Stückgut und Substrat“ verkauft, zuletzt vor allem in Lateinamerika. So detailgesättigt das klingt und so viele Fachtermini Peltzer fallen lässt: Womit beide Herren ihr nicht weniges Geld verdienen, bleibt bewusst im Dunklen. Es sind undurchschaubare Geschäfte, die ihre Betreiber permanent zu Jetsettern machen und Fragen nach dem Sinn ihres Tuns ausblenden.

Erst im letzten Viertel des Romans lernen sich Fleming (ja, wer an den Barockdichter Paul Fleming oder den „James Bond“-Erfinder Ian Fleming denkt, liegt nicht ganz falsch) und Brockmann kennen. Bis dahin folgen wir ihrem – oft in erlebter Rede und in zahllosen Klammersätzen – ausgebreiteten Blickwinkel und dem, woraus sich ihre Biografie zusammenfügt. Die „Dinge, die sein Leben betrafen, in eine strikte Reihenfolge zu bringen“ fällt dem Versicherungsjongleur Fleming schwer, und Peltzers Roman setzt, ganz den Vorgaben des modernen Erzählens folgend, diese Anschauung ästhetisch um. Immer wieder springt der Text durch alle Zeiten, lässt Vergangenes aufblitzen und vernetzt, den Zufall zum Teil gehörig strapazierend, Figuren und Episoden oft erst viele Seiten später miteinander.

Der dafür typische Romaneinstieg präsentiert Fleming in einem brasilianischen Hotelbett. Während er unter der Klimaanlage leidet und dem Bier zuspricht, erinnert er sich an ein politisches Schlüsselerlebnis: an den 4. Mai 1970, als es an der Kent State University in Ohio zu einem folgenreichen Massaker gekommen ist. Bei Protesten gegen die US-Invasion in Kambodscha werden vier Studenten von der Nationalgarde kaltblütig erschossen. Die Erinnerung an eines der realen Opfer, an die 19-jährige Allison Beth Krause, wird zu einem zentralen Romanmotiv – und damit der politische Widerstand, den der an ihr verübte (und nie gesühnte) Mord symbolisiert.

Was ist aus den Idealen der protestierenden Studenten geworden? Wie ist es dem System des Kapitalismus gelungen, die Vorstellung von einem anderen – einem besseren – Leben zu absorbieren? Das Kent-State-Massaker ist nur ein Beispiel für diese Auseinandersetzung mit den visionären Träumen des 20. Jahrhunderts. In einem langen (und ermüdenden) Kapitel geht Peltzer zurück in die 1930er-Jahre nach Moskau, breitet in schleppenden Dialogen die Redaktionsdebatten der „Deutschen Zentral-Zeitung“, des Organs der deutschen Sektion der Kommunistischen Internationale, aus und lässt Georg Lukács, Johannes R. Becher und Alfred Kurella aufmarschieren.

Obwohl diese Passagen eher wie eine historische Pflichtübung wirken und mit den Brockmanns und Flemings des 21. Jahrhunderts allenfalls auf vielen Umwegen zu tun haben, bleibt Peltzers Bemühen anzuerkennen, ideologische Diskussionen – etwa auch die des italienischen Linksterrorismus der 1970er-Jahre – seinem Text einzuschreiben. Dass die Geschichte ein Ziel habe, mag allen diesen Ideologien gemein gewesen sein; geblieben ist davon kaum mehr als die Sehnsucht nach einem „besseren Leben“ – eine banale, aber realitätsnahe Erkenntnis. Je älter die längst saturierten Protagonisten werden, desto deutlicher spüren sie, dass so viel „auf der Strecke bleibt“. Was einst das bürgerliche Überleben zumindest oberflächlich sichern sollte, taugt nicht mehr, um Zusammenhang zu stiften. Als Brockmanns Eltern ihre diamantene Hochzeit feiern, ist er schon damit überfordert, sich nach dem Wohlergehen seiner Schwester und ihrer Anverwandten zu erkundigen. Die Rituale des Small Talks hat er verlernt, so wie alle „Regeln und Worte“, die einen „Kosmos identischer Werte und Überzeugungen“ verheißen.

Dass der Solitär Brockmann – seine geschiedene Frau Heidi sucht ihr Heil im ökologisch einwandfreien Landleben – dennoch aus seiner Isolation herauszufinden scheint, gehört zu den Überraschungen dieses ernsten Romans. Als er nämlich die Bekanntschaft der ein paar Jahre jüngeren Angelika Volkhart macht, die für eine niederländische Reederei arbeitet, beginnen – ganz altmodisch – Amors Pfeile hin und her zu fliegen. In diesen fast traditionell anmutenden Szenen zeigen Peltzers Figuren ein rührend naives Verlangen, aus ihrem Hexenkessel der Einkommensvergrößerung herauszufinden: durch das Wunder der späten Liebe.

Keine Frage, „Das bessere Leben“ ist eine fordernde Lektüre. Der Roman stellt Lebensentwürfe nebeneinander, ohne dass der Autor bzw. sein Erzähler partout das letzte Wort behalten will. Natürlich spürt man zwischen den Zeilen, dass Peltzer darunter leidet, wie wenig von den gesellschaftlichen Utopien des vergangenen Jahrhunderts Bestand hat, und wohl auch, wie wenig das viele aus der jüngeren Generation heute interessieren mag. Doch Peltzer ist klug genug, die Konstruktion seines vielschichtigen, mitunter ärgerlichen und oft faszinierenden Romans nicht seinem Groll zu opfern. In der Realität, so reflektiert eine seiner Nebenfiguren, gebe es keinen Konjunktiv als Rettung, nur in der Kunst. Ob das auch für „Das bessere Leben“ gilt, ist eine der anregenden Fragen, auf die es am Ende der Lektüre zum Glück keine schlüssige Antwort gibt. ■

Ulrich Peltzer

Das bessere Leben

Roman. 446 S., geb., 23,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

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