Aserbaidschan und anderswo

Heimliche Revolutionssehnsucht: Verena Mermers bemerkenswertes Prosadebüt.

Kleinschreibung, Flattersatz, stellenweise Stakkatostil: Die Avantgarde der Nachkriegszeit scheint einen langen Atem zu haben. So schreibt also eine 30-Jährige im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

Verena Mermers Romandebüt ist eineFolge von kursiv gesetzten inneren Monologen, die bruchlos ergänzt werden durch die fast durchgängig im Präsens formulierte Außensicht des Erzählers. Die Namen derer, die gerade sprechen oder über die gesprochen wird, sind in Klammern als Marginalien an den Rand gedruckt, verlieren sich dann wieder, wo dieErzählerrede den inneren Monolog verdrängt.

Die Figuren der Handlung heißen Nino (eine Frau), Ali, Frida und Che, Richard und Fuad. Nino ist Lehrerin, Frida Schauspielerin, Ali ein „ewiger Student“, und Che ist Arzt. Zwei Namen und darüber hinaus ein paar surrealistisch anmutende Einschübe hat sich Verena Mermer aus einem entfernten kulturellen Kontext geliehen, von Che Guevara und von Frida Kahlo. Damit knüpft sie an eine Zeit an, die nicht ganz so weit zurückliegt wie die Avantgarde der 1950er-Jahre, aber doch vor der Geburt der Autorin ist. Was diese Vergangenheit mit der Gegenwart des Romans verbindet, ist die heimliche Sehnsucht nach einer Revolution.

Ort der über weite Strecken fast impressionistischen Erzählung ist Baku. Ein Bild des durch militärische Auseinandersetzungen und diktatorische Verhältnisse erschütterten Aserbaidschan liefert der Roman beiläufig, gleichsam im Vorübergehen. Es ist der Hintergrund, vor dem die privaten Geschichten sich abspielen.

Stellenweise erinnert der Roman entfernt an ein Drama: an „Die Gerechten“ von Albert Camus. Die Thematik des Widerstands gegen totalitäre Verhältnisse schlägt eine Brücke zwischen dem Russland von 1905, in dem Camus' Sozialrevolutionäre ein Attentat auf den Großfürsten vorbereiten, und dem Aserbaidschan von heute. Dann wieder ein Satz wie von Elfriede Jelinek: „die ohren sind unsichtbar, sonst würden wir sie ihnen schon abschneiden.“

Privates, Politisches verschränkt

Nach den ersten 30 Seiten ändert sich der Ton. Die Sprache wird lyrisch, Anspielungen auf Märchen dringen in den Duktus der Erzählung, ein Legato löst das Stakkato des Anfangs ab.

„die stimme über den dächern“ istein Roman über Revolution und Widerstand, über Bespitzelung und Angst, en passant auch über Flucht und Auswanderung, über Heimatgefühl und Fremdheit vor der Folie zweier Liebesgeschichten. So gelesen, geht er weit über Aserbaidschan hinaus, beschreibt er eine für unsere unmittelbare Gegenwart paradigmatische Situation. Verena Merker packt viel, sehr viel in die rund 150 Seiten ihres Romans. Sie deutet an, lässt offene Fäden aus der Textur hängen – etwa über die Homosexualität von Alis Bruder Fuad. Das geht auf. Die Rhythmen und die Relationen stimmen. Keine Versuchung zur seitenfüllenden Geschwätzigkeit, die viele zeitgenössische Romane aufbläht.

Die Niederösterreicherin Verena Mermer spielt mit dem Reiz aserbaidschanischer, auch georgischer und russischer Begriffe, deren Aussprache und Bedeutung sie vor einer überlangen Liste von Danksagungen im Anhang erläutert. Auf den letzten 25 Seiten gelingt der Autorin eine virtuose Engführung der privaten und der politischen Geschichte, deren Technik sie zudem, wie es von einem modernen Roman erwartet wird, reflektiert. Aserbaidschan, dieses unbekannte Land, ist dem Leser ein gutes Stück näher gerückt. ■

Verena Mermer

die stimme über den dächern

Roman. 160 S., geb., € 9,99 (Residenz Verlag, St. Pölten)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.