Tiroler Gebirgsjäger im Dschihad

Steffen Kopetzkys „Risiko“: Weltpolitik als Abenteuergeschichte, großes Kino in Prosa.

Steffen Kopetzkys historischer Roman „Risiko“ hat etwas Überwältigendes. Es geht um den Ersten Weltkrieg. Was der Autor auf mehr als 700 Seiten ausbreitet, löst die Idee von epischer Totalität mit einer Konsequenz ein, die in der Gegenwartsliteratur selten ist. Man folgt Kopetzky gerne in ferne Zeiten und Länder.

Die Geschichte beginnt mit der Flucht derdeutschen Flotte vor der Royal Navy der Engländer, die seit Jahrzehnten das Mittelmeer beherrschen. Der rettende Hafen ist Konstantinopel, im Bereich der mit den Deutschen verbündeten Türken. Dort ist zwei Monate nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 Oberleutnant Oskar Niedermayer vom 10. Königlich-Bayerischen Feldartillerieregiment dabei, eine Geheimexpedition des Deutschen Reichs an den Hindukusch zusammenzustellen. Die Idee dazu stammt vomOrient-Experten Max von Oppenheim. DieserOppenheim, die deutsche Antwort auf Lawrence von Arabien, ging mit seinem Plan, die Moslems in den Kolonien der Engländer gegen ihre Herren aufzuhetzen, als „Abu Djihat“ in die Geschichte ein. Sebastian Stichnote, der Protagonist des Romans, ist froh, der bayerischen Provinz als Marinefunker aufdie Weltmeere und dort der deutschen Marine im Feuer der britischen Kanonen aufs Land entkommen zu sein. Er ist begeistert von der kosmischen Dimension des Funkens und übernimmt den Auftrag, Transport und Bedienung der riesigen und modernsten Funkanlage seiner Zeit zu managen; als sein Gerät irgendwo auf der mühsamen Reise zerbricht, entwickelt Stichnote sich in kürzester Zeit zum Experten für Zucht, Pflege und den Einsatz von Brieftauben.

Anfang Dezember 1914 brechen 60 Mann auf. Ihr Ziel ist Kabul. Oberleutnant Niedermayer wird im offiziellen Auftrag des „Sultans von Deutschland“ den Emir von Afghanistan und die Stämme der Paschtunen im Namen des Islam als Verbündete anwerben, deren heilige Pflicht ein Angriff auf Britisch-Indien ist. Niedermayers Mannschaft bestehtaus bayerischen und Tiroler Gebirgsjägern, dem Funker Stichnote, einem Schweizer Journalisten und einem britischen Geheimagenten, der sich, als indischer Prinz verkleidet, in die Expedition einschmuggelt.

Vor ihnen liegen 5000 Kilometer – Syrien, Bagdad, Teheran, Isfahan, zuletzt die persische Wüste, die Route führt durch Gegenden, die noch kein Deutscher und kein Österreicher betreten hat. Die Truppe reist mit der Bagdadbahn, zu Pferd und auf Kamelen durch Wüsten und Gebirge. Endlich am Ziel, ziert sich der Emir von Afghanistan, doch Funker Stichnote rettet in einem heldenhaften Kampf das Projekt, und die Geschichte nimmt ihren Lauf.

Wir begegnen dem späteren Nachfolger Hitlers an der Spitze des Deutschen Reiches, Karl Dönitz, als 23-jährigem Offizier; wir begleiten den Vater von Albert Camus auf seinem Weg von Algier an eine europäische Front; wir erleben, wie die Reisenden Pachisi spielen, ohne zu wissen, dass sie sich eigentlich mit „Mensch ärgere Dich nicht“ ihre mühseligen Stunden vertreiben. Kopetzky erzählt Weltpolitik als Abenteuergeschichte, ohne zu vereinfachen oder zu idealisieren. Nietzsche taucht in einer Nebenrolle auf, dass Hegel an der Cholera starb, wird erzählt, doch der Autor macht auch klar, dass er weiß, worum es in der Geschichtsphilosophie des absoluten Idealismus geht. Wichtiges Handlungselement ist ein Strategie-Brettspiel, mit dem der legendäre Militärtheoretiker Carl von Clausewitz seine Sicht des Krieges lehrte; im Roman wird atemberaubend geschildert, dass diese spielerische Mischung aus Schach und Go mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Was die Lektüre dieses Wälzers über den Ersten Weltkrieg so faszinierend macht, ist sein Gegenwartsbezug: Es geht um den Dschihad. In diesem Roman wird nichts erklärt, aber die Lektüre schafft ein Bewusstsein für Zusammenhänge und die Entwicklung von Ideen der islamischen Welt. Es geht um einen Stellvertreterkrieg, den Kalten Kriegund militärische Globalisierung in einer Zeit, als es diese Begriffe noch gar nicht gab.

Steffen Kopetzky hat zehn Jahre daran gearbeitet, um herauszufinden und darzustellen, wie Deutschland die Muslime am anderen Ende der Welt motivierte, dem britischenWeltreich den Dschihad zu erklären. Dieser Heilige Krieg verlief nach einem in Berlin entwickelten Plan, um Feinde Deutschlands an einer neuen Front zu bekämpfen. Geschichte wird erzählt und beschrieben, der Roman atmet Welthaltigkeit. Dass der Autor auch eine große interkulturelle Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann aus Bayern und einer Albanerin einbaut, ist erstens nötigund zweitens sehr schön. Steffen Kopetzky ist mit diesem Roman Seltenes gelungen: großes Kino in Prosa. ■

Steffen Kopetzky

Risiko

Roman. 732 S., geb., € 25,70 (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

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