Geld aus Geld machen

Wachsende Ungleichheit. Die Keynesianer um Joseph E. Stiglitz glauben die besseren Rezepte gegen das Auseinanderfallen von „Reich und Arm“ zu haben als die Neoliberalen. Am Ziel eines anhaltenden Wachstums rütteln beide nicht. Zu Recht? Eine Widerrede.

In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt Joseph Stiglitz die wachsende Ungleichheit in unseren Gesellschaften. Für ihn sind Armut und Reichtum systemisch verknüpft, die Finanzkrise hängt unmittelbar damit zusammen. Erst die siegreiche „Finanzialisierung“ der Wirtschaft mit ihrem Ideal, ohne lebensweltliche Rücksichten aus Geld noch mehr Geld zu machen, mündet in die sich überstürzenden Wirtschaftskrisen unserer Tage. Immer noch massiver konzentriert sich der Reichtum bei einer winzigen Gruppe von Superreichen, Armutszonen werden größer, gerade auch in reichen Ländern in Form eines wachsenden Prekariats. Reichtum und Armut klaffen weltweit immer weiter auseinander. Der immer schon gefährdete soziale Zusammenhalt, die Grundlage für friedliche, personal und kollektiv befriedigende Gestaltung, ist weithin im Zerbrechen. Vor allem aber: Immer hilfloser erscheinen die politischen Eliten gegenüber den Wirtschafts- und Finanzkrisen und gegenüber den Spaltungen der Gesellschaft.

Die große Spaltung, die Kluft in der Gesellschaft, so der amerikanische Titel, ist das Thema. Die Ein-Prozent-Gesellschaft, die Stiglitz in den USA schon erreicht sieht, ist nicht nur unfair und ungerecht, sie ist die Ursache der großen Krisen. Mit diesem Ansatz unterscheidet er sich deutlich von den so beliebten Erklärungsversuchen, die Krisen und Zusammenbrüche zuallererst auf Charaktermängel der handelnden Personen schieben und gewissermaßen den Kapitalismus auf die Couch legen. Gewiss, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik werden von Menschen mit ihren Tugenden und Lastern gemacht, auch aus Gier, Neid und Brutalität. Aber Wirtschaft ist mehr als die Summe individueller Vorzüge und Mängel, sie ist ein gesellschaftliches System, durch und durch verschränkt mit Politik. Dieses Bild der Wirklichkeit setzt auch Stiglitz als selbstverständlich voraus.

Was ihn nicht daran hindert, einzelne Akteure und Akteursgruppen speziell im US-amerikanischen Machtgefüge unverblümt und offenbar genüsslich zu kritisieren.

Der Band versammelt 53 Texte, die in den vergangenen Jahren in Magazinen und Zeitungen erschienen sind, konzipiert vorwiegend für ein US-amerikanisches Publikum. Der Autor fasst sie ohne systemischen Ehrgeiz zu Kapiteln zusammen und verbindet sie mit kurzen Einleitungen. Die Leser gewinnen einen Überblick über die andauernde Präsenz des Autors in den intellektuellen Auseinandersetzungen zu den Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die Stimme des Nobelpreisträgers wird weltweit gehört, und speziell in Europa wurde Stiglitz zur Galionsfigur der einen Hälfte des ökonomischen Mainstreams, das sind, unter dem gängigen Kürzel „Keynesianer“, die Nichtgläubigen in Sachen Marktdominanz. Sie gewinnen ihr Profil aus der Gegnerschaft zur anderen Hälfte des Mainstreams, die verschiedenste Strömungen der Marktgläubigen und sogenannten Neoliberalen bündelt.

Wachstum: Mantra der Ökonomen

Dieser Streit der Experten und Kommentatoren beherrscht die Öffentlichkeit, er verdrängt die wesentlichen Fragen, und die Profiteure und Verwalter des gegenwärtigen Weltsystems haben es leicht, ihre Interessen und Strategien hinter dem Geplänkel der jeweils favorisierten Experten zu verbergen. Doch ein nüchterner Blick sieht einerseits fundamentale Gemeinsamkeiten, die beide Hälften des Mainstreams verbinden, vor allem die Überzeugung, dass nur die stetige Ausdehnung der Wirtschaft und besonders der Profite, euphemistisch „Wachstum“ genannt, Wohlstand und Frieden bringt. Ob besser unter einem regulierenden und eingreifenden Staat oder besser unter dem Diktat freier Unternehmer – Hauptsache, es gibt Wachstum. Das Mantra der Ökonomen. Andererseits sind die verfeindeten Lager nicht so homogen, wie die sie konstituierende Feindschaft vermuten lässt; auch das wird an Stiglitz' Texten ablesbar. Grenzenloses „Wachstum“ auf einer begrenzten Erde ist ein Unding. Stück für Stück bricht diese Einsicht sich in beiden Lagern Bahn.

Die Wünsche haben inzwischen, rechts wie links, dasselbe Kennwort: Übergang zu einem nachhaltigen Wirtschaften. Doch Nachhaltigkeit ist nicht ohne partielles Schrumpfen zu haben. Daher herrscht beiderseits Verwirrung, wie Degrowth, also ein mit radikalen Schrumpfungen verknüpftes Wachstum, in Gang gebracht werden könnte. Sollen die programmierten Katastrophen abgewendet oder zumindest gedämpft werden, müssen die schädlichsten Aktivitäten in Produktion und Konsum und in den sie steuernden Systemen von Finanz und Politik geschrumpft werden; aber wie und mittels welcher Institutionen und welcher politischen Prozesse kann das gelingen?

Die Klimakatastrophe einerseits, der gängige Kauf von Wählerstimmen mittels unverminderter Zerstörung der Lebensgrundlagen (derzeit die Kehrseite des Wohlstands) andererseits sind dafür aktuelle Beispiele. Lang hat man versucht, die Öffentlichkeit mit großmundigen Absichtserklärungen hinzuhalten. Doch tatsächlich steuern Wirtschaft und Politik weiter in Richtung Ruin. Mit größerem Wissen und mit der Einsicht in den Zusammenhang wächst zunächst die Verwirrung. Sie ist lagerübergreifend; allseits wird versucht, dieser entscheidenden Frage womöglich auszuweichen, sie hinauszuschieben. Denn hier hilft die publikumswirksame Trennlinie zwischen Keynesianern und Marktgläubigen nicht länger.

Anders als viele in seiner Zunft analysiert Stiglitz Wirtschaft als politische Ökonomie. Speziell im Blick auf die USA sieht er im Versagen der Institutionen und der Politik den Hauptgrund für die Zuspitzung der Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die immer neuen Wellen von Steuerungsfehlern beanspruchenden Großteil seines Engagements, aber gelegentlich stellt er sie doch in den realen politischen Zusammenhang: „Das politische System der USA wird vom Geld beherrscht.“ Daran vor allem scheitern gut gemeinte Reformansätze. Die „Konzernwohlfahrt“ werde ständig ausgebaut, die Sozialleistungen für die Armen werden gekürzt. Die Parallelen zurDynamik in Europa liegen auf der Hand.

Stiglitz versteht sich selbst als Sprecher einer „neuen Linken“; wiederholt bezieht er sich auf Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert). Dabei ist freilich zu bedenken, dass in Europa die Begriffe links und rechts oft andere Inhalte haben. Es ist der Stolz der „linken“ Ökonomen – so die Selbsteinschätzung von Stiglitz und seiner Anhänger –, mit ihren Analysen und Rezepten könne das ominöse Wachstum besser angekurbelt werden. Wachstum müsse nachhaltig und integrativ sein, „zumindest die Mehrheit der Bevölkerung muss davon profitieren“. Stiglitz fasst seine Position so zusammen: „Die neue Linke (versucht), die Funktionstüchtigkeit der Märkte zu gewährleisten.“

Nun ist „Markt“ unter gewissen Voraussetzungen als eines der Organisationsinstrumente wohl bewährt; eine Fülle unterschiedlichster einzelner Märkte stützt diese Einsicht. Doch im realen historischen Kontext funktionieren die wichtigen Märkte in eigenartigen Machtverhältnissen, unter der Vorgabe maximaler, unbegrenzter Profitausdehnung. Funktionstüchtig sind heute solcheMärkte, die den derzeitigen Machtverhältnissen und den daraus folgenden Zielvorgaben dienlich sind. Die Finanzmärkte beispielsweise, die vor 2008 das Unheil der großen Krisen ausbrüteten, waren unter diesen Vorgaben durchaus funktionstüchtig, und seitdem haben sich die Machtverhältnisse und die dominante Zielvorgabe maximalen Profits nicht im Geringsten geändert.

Weitergedacht hieße das nicht, die „marktfähige Demokratie“ anzusteuern? Solche Schlussfolgerungen liegen dem Autor fern. Denn nur sporadisch bezieht er sich auf die allumfassende Dominanz der Machtverhältnisse. Das erlaubt ihm, den Unternehmen und der Politik ein nachhaltiges und integratives Wachstum als Ziel vorzugeben, ohne die systemischen Behinderungen, die er bei anderer Gelegenheit sehr wohl erörtert hat, ins Kalkül einzubeziehen.

Kreativer Wirtschaftswissenschaftler?

Stiglitz, so liest man in der angesehenen Zeitung „Die Zeit“, sei „der zurzeit bedeutendste, kreativste und einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler“. Einflussreich und bedeutend gewiss, aber kreativ? Zum Hauptthema seines neuen Buchs, Ungleichheit, ist davon nichts zu finden. Vielversprechende, aber noch unerprobte politische Neuerungen werden hier, wie überhaupt im Mainstream, rechts wie links, abge- und aus der Öffentlichkeit verdrängt. Es sind soziale Bewegungen, die Zivilgesellschaft, die sie entwickeln und der politischen Klasse aufdrängen.

Zum einen könnte ein globaler Finanzausgleich, wie etwa der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg, weltweit dazu beitragen, zwar nicht die historische Ungerechtigkeit, aber im großen Maßstab die schlimmste Armut zu beseitigen. Es wäre der am weitesten reichende, erste Schritt zum Ermöglichen des „guten Lebens“, überall und für alle.

Zum anderen wäre die unmittelbar und akut wohl beste Abhilfe gegen die galoppierende Ungleichheit ein allgemeines unbedingtes Grundeinkommen. Es ist in reichen wie in armen Ländern praktikabel und gibt den sozial abstürzenden oder bedrohten Menschen die elementare Sicherheit, nicht ausgestoßen und nicht genötigt zu sein, beim Ausstoßen anderer mittun zu müssen. Erst diese Sicherheit ermöglicht ihnen, ermöglicht uns, politisch ihre/unsere Angelegenheiten in die Hand zu nehmen.

Ausgerechnet der „kreative“ Nobelpreisträger vermeidet es, diese vielleicht wichtigsten politischen Vorhaben gebührend in den Vordergrund zu rücken. Sicherlich würde einglobaler Marshallplan die Finanzindustrie in eine ungewohnte Lage bringen; ist es das, was Stiglitz verstummen lässt? Zum Grundeinkommen lässt er jüngst verlauten, man sollte es „als Teil der Lösung in Betracht ziehen“, vermeidet es aber, dieses mittelfristig vielleicht bedeutendste soziale Vorhaben als Politikum voranzubringen. ■

Joseph E. Stiglitz

Reich und Arm

Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. 512 S., geb., € 25,70

(Siedler Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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