Babyboomer kommen ins Krebsalter

Gesundheitsökonom Karl Lauterbach analysiert die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf das Gesundheitssystem.

Karl Lauterbach ist Arzt, Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Köln und Politiker der SPD im Deutschen Bundestag. Er schreibt gern Bücher, und diese sind im Regelfall auch erfolgreich. Er hat ein Anliegen in Politik wie Publizistik: Die Welt soll fairer werden. Seinen Beitrag dazu sieht er naheliegenderweise in Gesundheitsfragen. Sein Buch „Die Krebsindustrie“ ist ein nüchtern und unterkühlt daherkommender Megaangriff auf die Pharmaindustrie, die entsprechend auch not amused ist und ihrerseits das Buch scharf angreift. Das ist ja schon selbst ein Qualitätszeichen.

Lauterbachs Diagnose: Krebs wird in 30 bis 40 Jahren heilbar sein, das heißt, es wird eine chronische Krankheit werden wie etwa heute schon HIV. Das liegt an den bahnbrechenden Entdeckungen der Molekularbiologie über die genetischen und molekularen Mechanismen der Krebsentstehung und des Krebswachstums. Die ersten Kapitel des Buchs sind eine ausgezeichnete Einführung in diese neueren Entwicklungen inklusive einer realistischen Einschätzung des derzeitigen klinischen Nutzens der neuen Krebsmedikamente, für die ja allerorten Werbung gemacht wird und die Lauterbach aber nüchtern als erste, beschränkte Schritte in eine vielversprechende therapeutische Zukunft einschätzt, Stichwort „personalisierte Therapie“. Die Pharmaindustrie betreibt in diesem Segment eine Preispolitik, die hier als obszön bezeichnet werden soll (eine Polemik, die sich Lauterbach nie erlauben würde). Denn: „Die hohen Preise der Krebsmedikamente resultieren nicht aus ihrem realen Nutzen.“ Therapiekosten von 100.000 bis 200.000 Euro sind hier normal. Sie resultieren aber auch nicht aus den angeblich so hohen Forschungsaufwendungen – nur 1,3Prozent des Umsatzes gehen zurück in die Grundlagenforschung.

Die wichtigsten Entdeckungen der vergangenen 30 Jahre wurden an Universitätsinstituten gemacht, die auch in den USA mit jeder Menge „public money“ ausgestattet sind – also ist der Gewinn der Pharmaindustrie auch noch eine Art Diebstahl am öffentlichen geistigen Eigentum. Damit noch nicht genug, wirft der Autor den Pharmakonzernen den systematischen Missbrauch ihrer Marktmacht vor, vom Druck auf die Zulassungsbehörden über geschönte und manchmal auch gefälschte Studienergebnisse und die geradezu atemberaubend präpotente Intransparenz der Preispolitik, er beschreibt außerdem Situationen, in denen die Konzerne sogar die Forschung behindern, wenn sie nicht ins Produktkonzept passt.

Überhöhte Preise der neuen Krebsmedikamente werden in absehbarer Zeit die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems gefährden; das liegt unter anderem daran, dass die Babyboomer (etwa die Jahrgänge von 1955 bis 1969) ins Krebsalter kommen: Krebs ist ja eine Erkrankung des höheren Lebensalters (statistisch gesehen), man bekommt ihn ca. ab 60–65, und die Babyboomer sind die Wohlstandsgeneration schlechthin; sie sind übergewichtig, sie rauchen, sie bewegen sich nicht und häufen so alle Risikofaktoren an, die den Krebs begünstigen.

Parallel dazu ist die Grundlagenforschung noch nicht so weit, Therapiestrategien anzubieten, die die hoffnungsfrohe Botschaft „Krebs wird heilbar!“ schon für diese Alterskohorte nutzbar machen kann. Einstweilen sind einige Substanzen in klinischem Einsatz zu – wie gesagt – nicht nachvollziehbaren Preisen, deren Weiterentwicklung zu maßgeschneiderten Therapien, die das Wort „personalisiert“ verdienen würden, noch viele Jahre dauern wird. So werden die Babyboomer mit relativ unwirksamen, aber sehr teuren Medikamenten behandelt werden, wenn sie Krebs bekommen, und das, weil sie so viele sind, massenhaft. Und das wird das Solidarsystem sprengen.

Keine gute Botschaft, aber ein wichtiges Buch, das seine Stärke gerade aus seiner Nüchternheit bezieht. ■

Karl Lauterbach

Die Krebsindustrie

Wie eine Krankheit Deutschland erobert. 288 S., geb., € 20,60 (Rowohlt Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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