Unterm Schutz des Kaisers?

Ansiedlung und Vertreibung: Claudia Erdheims bewegendes Bild der Wiener Judenstadt im 17. Jahrhundert.

Mörder, Giftmischer, Ehebrecher, Diebe und Gotteslästerer – das waren für die christlichen Untertanen Kaiser Leopolds I. die Juden. Dieser Hass, die Judenfeindschaft seiner spanischen Ehefrau und der Brand der Kaiserburg bewegen den Kaiser 1669 zur Ausweisung der Juden aus der Wiener Judenstadt. „Kein Jude soll in Wien zurückbleiben“, wettert auch der Wiener Bischof Kollonitsch. Eine verhängnisvolle Entwicklung, welche das von Kaiser Ferdinand II. am 6. Dezember 1624 erlassene Privileg zur Ansiedlung der Juden in der Wiener Judenstadt aufhebt und sie in den Abgrund stürzt.

Der Grenzstein zwischen Karmeliterkloster und dem Unteren Werd, wo die Judenstadt errichtet wurde, steckt den Schauplatz von Claudia Erdheims Erzählung „In der Judenstadt“ ab. Das kurze Intermezzo kaiserlicher Gnade erscheint hier ungemein gesättigt. Eine Katastrophe jagt die andere – Überschwemmungen, Seuchen, antijüdische Krawalle, der Synagogenbrand. Zwischendurch stehen die Schweden vor den Toren Wiens, und der Westfälische Frieden wird geschlossen. Der auf dem Einband abgebildete Plan der Judenstadt aus dem Jahre 1663 sowie das Motto aus dem Originaltext des Kaiserprivilegs sorgen für Authentizität und für die Einfühlung in die Atmosphäre der Zeit.

In historischen Büchern selten mit einer solchen Präzision wie bei Erdheim beleuchtet, wird die Zeit zwischen 1624 und 1669 in ihrer literarischen Darstellung – einem kunstvollen Geflecht aus Städte-, Kaiser-, Volks- und Familienchronik – erst recht lebendig. Das Bild des Unteren Werd aus der Vogelperspektive ist nur der Anfang. Aus der Fernsicht wird schnell eine Nahsicht. Aus der scheinbar kühlen Distanz der Historie kristallisiert sich das anschaulich und einfühlsam, mit einer Prise Humor und Ironie erzählte, bunte Kolorit des Alltagslebens in der Judenstadt heraus. Man geht in die Synagoge, in den Cheder, feiert Schabbes, Rosh Haschana und Hochzeiten, die nicht immer beglückend sind. Besonders schicksalhaft: die Hochzeit Kaiser Leopolds. Ein aus feinstem Silber geschmiedetes Knäblein, das die Juden der Kaiserfamilie schenken, wird das Unheil in Gang setzen.

Situationsfülle und Szenenreichtum bei einer bemerkenswerten Sprachökonomieund Zurückhaltung der Erzählerin sind Claudia Erdheims Markenzeichen. Doch gerade durch diese Schnörkellosigkeit und außergewöhnliche Klarheit geht ihr Buch unter die Haut. Die Lebensnöte der Juden werden in einfachen Sätzen wie „Selten ist ein Winter so kalt gewesen wie dieser“ oder „Gelsen schwirren über der Judenstadt“ körpernah vermittelt. Ein Satz wie „Endlich sind die Juden weg, und weg sollen sie bleiben“ ersetzt Bände von Antisemitismusforschung. Zahlreiche Dialoge zwischen den Bewohnern der Judenstadt – etwa wegen Samuel Israels skandalösem Beischlaf mit einer Christin – ziehen uns tief ins Geschehen hinein.

Hinrichtungen, erschütternde Todes- und Mordfälle und vor allem die Lebensgeschichte und mysteriöse Ermordung von Lena, der aus dem 17. Jahrhundert bekannten „Märtyrerin“ Leonore von Wien, sind dramatische, meisterhaft inszenierte Höhepunkte im Buch. Angst und Schrecken sind in der Judenstadt allgegenwärtig. Die Juden aber tragen ihr Los mit Würde. Sie vertrauen Gott („Gott gibt, Gott nimmt“) und dem Kaiser („Sie stehen unter dem Schutz des Kaisers“). Der sich kompositorisch bedeutsame Satz „Sie packen ihr Hab und Gut in Kisten“ markiert Anfang und Ende der Zeit der Kaisergnade. Vom Kaiser im Stich gelassen, fügen sich die Juden dem „Verhängnis des Himmels“ und ziehen davon.

Erdheims Panoramabild der Judenstadt imponiert mit seiner Vielschichtigkeit, mit der Unverfälschtheit und Virtuosität bei der Entfaltung von Geschichte. Noch beeindruckender ist ihre Zeichnung der menschlichen Zerbrechlichkeit und der Fatalität historischer Ereignisse: realistisch, formvollendet und ergreifend. ■


Claudia Erdheim präsentiert ihre Erzählung am 24. November, 19 Uhr, im Lesesaal der der Wienbibliothek im Rathaus.

Claudia Erdheim

In der Judenstadt

Erzählung. 144 S., geb., € 18,90 (Czernin Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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