Pippi ist ein Kind des Krieges

Ein zeitgeschichtliches Fundstück: die Kriegstagebücher 1939–1945 der Astrid Lindgren, die für den schwedischen Geheimdienst tätig war. Mehr privaten Einblick bietet eine neue Biografie.

Es ist eine Wucht, was die schwedische Autorin Astrid Lindgren im kriegsfernen Stockholm in den Jahren von 1939 bis 1945 zu Papier gebracht hat. Als politisch hellwache und unverzagte Tagebuchschreiberin nahm sie geradewegs den Kampf gegen Defätismus und Gleichgültigkeit auf, die das Gemüt einer 32-jährigen Mutter und Hausfrau in ihrer bald schon von feindlichen Mächten umzingelten Heimat hätten verdunkeln können.

Stattdessen: Mut, Empörung, Angst, Mitleid. Vor allem aber: Widerstand. „Die Menschheit hat den Verstand verloren“, schreibt sie und fürchtet: „Die Welt muss am Ende so voller Hass sein, dass wir allesamt daran ersticken.“ Ihre Aufzeichnungen lesen sich wie das Logbuch eines unbeirrbar klaren Kurses der Besonnenheit im Toben entfesselter Elemente.

Man kennt ihren Namen als Verfasserin der weltweit am meisten verbreiteten Kinderbücher, allen voran „Pippi Langstrumpf“. Aber als Beobachterin der Zeitgeschichte vom Küchentisch aus kannte man Astrid Lindgren bislang nicht. 70 Jahre lang waren ihre 17 in Leder gebundenen Tagebücher mit Eintragungen, Bildern, eingeklebten Zeitungsausschnitten unveröffentlicht geblieben, bis sie nun in rascher Folge auf Schwedisch und Deutsch publiziert wurden.

„Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben.“ So setzen am 1. September1939, mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen, Astrid Lindgrens Aufzeichnungen ein. Tags zuvor ist dieSchwedin noch mit einer Freundin im Stockholmer Vasa-Park gesessen, „die Kinder liefen und spielten um uns herum, und wir schimpften ganz gemütlich auf Hitler und waren uns einig, dass es wohl keinen Krieg geben würde – und dann das!“ Zwei Tage später, nach dem Eintritt Englands und Frankreichs in den Krieg, weiß sie: „Das Urteil der Geschichte über Adolf Hitler wird fürchterlich ausfallen.“ Denn: „,Danzig und den Korridor‘ hat Hitler diesmal verlangt, aber sein innerster Wunsch ist vermutlich, die ganze Welt zu beherrschen.“ Nur einen Monat später, am 3. Oktober1939, heißt es unverblümt: „Schade, dass niemand Hitler erschießt.“

Schreibend verhielt sie sich sonst wunderbar sachlich und kühl. Keine seismografischen Abmessungen des eigenen inneren Bebens wie bei Thomas Mann, sondern alle Antennen eines wachen politischen Verstands auf Empfang nach außen gestellt. Nicht nach innen richtete sie ihre Wissbegierde, sondern ausschließlich nach außen, auf Familie, Landsleute, Weltpolitik.

Diese machte es der Chronistin im kriegsverschonten Schweden schwer, den hartnäckig herbeigeschriebenen Kurs der Besonnenheit beizubehalten. „Neutral bis in den Tod“ war die Losung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson, der sich Astrid Lindgren anfangs nur widerwillig anschloss: Als die Russen Finnland im Winterkrieg 1939 überfallen, hadert sie mit ihrer Regierung, die den Finnen militärische Hilfe verweigert.

Der Norden als Kriegsschauplatz

Doch nur wenige Wochen später, am 9. April 1940, vermeldet sie: „Norwegen befindet sich seit dem frühen Morgen im Kriegszustand mit Deutschland. Dänemark ist von den Deutschen besetzt worden. Nun ist der Norden also Kriegsschauplatz, und unter den nordischen Ländern ist Schweden das einzige Land, das noch keinen Kontakt mit fremden Truppen gehabt hat.“ Und am 10. Mai 1940: „Vielleicht sind wir als Nächste an der Reihe. Deutschland gleicht einer bösartigen Bestie, die in regelmäßigen Abständen aus ihrer Höhle hervorgestürzt kommt, um über ein neues Opfer herzufallen. Mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, kann etwas nicht stimmen.“

Dennoch fürchtet sie nach allem, was sie aus dem nahen Finnland weiß, die Sowjets mehr als die Deutschen. „Am schlimmsten ist, dass man Deutschland bald kaum noch eine Niederlage zu wünschen wagt, denn jetzt haben die Russen wieder angefangen, sich zu bewegen“, hält sie Mitte Juni 1940 fest. „In den vergangenen Tagen haben sie unter allerlei Vorwänden Litauen, Lettland und Estland besetzt. Und ein geschwächtes Deutschland könnte für uns im Norden nur eins bedeuten – dass wir die Russen auf den Hals kriegen. Und dann, glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens ,Heil Hitler‘, als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben. Etwas Entsetzlicheres kann man sich gar nicht vorstellen.“

Der Sachbuchautor Per Svensson befand, dass dies damals angesichts der Nähe des Baltikums die allgemeine Meinung in Schweden war. Nur dass Astrid Lindgren die Schuldfrage nicht aus dem Auge verlor: „Für alle Zeiten wird Deutschland die Verantwortung dafür tragen, dass es die russischen Barbaren auf Europa losgelassen hat.“

Ab Herbst 1940 war sie wegen ihrer Deutschkenntnisse abends im schwedischen Nachrichtendienst bei der Briefzensur tätig. Diese von ihr verächtlich als „Schmuddeljob“ bezeichnete Verpflichtung brachte der Diaristin einen beträchtlichen Wissensvorsprung gegenüber der allgemeinen Bevölkerung in Schweden. Umso mehr fühlte sie sich verpflichtet, in ihren privaten Aufzeichnungen um Klarheit angesichts der sie bedrängenden Ereignisse und Informationen zu ringen. Die Geheimdienstaufgabe blieb dabei strikt unerwähnt.

Ihre Abscheu vor den Nazis wuchs mit dem Wissen durch ihre Nachrichtentätigkeit. „Ich kann niemals an ein Regime glauben, das die Konzentrationslager Oranienburg und Buchenwald errichtete, das die Pogrome im Herbst 1938 zuließ und unterstützte und das ein norwegisches Mädchen zu einem Jahr Gefängnis verurteilte, weil es ein Bild vom Führer zerrissen hat.“ (23. November 1940)

Dem Brief eines nach Schweden geflohenen Wiener Juden entnimmt sie im März 1941 die Kenntnis von der Zwangsdeportation von täglich tausend Juden von Wien nach Polen. „Hitler beabsichtigt offenbar, ganz Polen in ein einziges Ghetto zu verwandeln, in dem die armen Juden an Hunger und Dreck sterben.“

Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die ebenso neugierige wie kluge Ehefrau und Mutter, die mit nicht nachlassender Energie als Chronistin den niederdrückenden politischen Ereignissen auf der Spur bleibt. Oder die angehende Schriftstellerin, die im unermüdlichen Dauerlauf mit den gefahrvollen Nachrichten des Krieges ihre intellektuelle Widerstandskraft stärkt. Inmitten dieser Ungewissheiten entdeckt sie ihr überragendes Talent: den Kindern für den Gang „hinaus ins feindliche Leben“ (Schiller) Mut zu machen, selbst wenn dies das ganz und gar nicht feindliche neutrale Schweden war.

Als ihre siebenjährige Tochter, Karin, krank im Bett liegt, erfindet sie als geübte Erzählerin von Kindergeschichten die anarchischen Abenteuer einer frechen Göre mit roten Zöpfen, die von der Villa Kunterbunt im Alleingang auszieht, um die Welt zu erobern und niemandes Untertan zu sein. Den Namen Pippi Langstrumpf steuert die kleine Karin selbst bei. In der bereits in den Kriegsjahren entstandenen Urfassung schlägt das tollkühne Mädchen in einer Zirkusszene den zischenden und fauchenden „schdarken Adolf“, „den schdärksten Mann der Welt“, mit einem pfeilgeraden Haken k.o. Als „Pippi Langstrumpf“, „dieses verflixt lustige Buch“, wie es die Autorin nennt, nach langer Verlagssuche im November 1945 endlich erscheint, ist ein solcher Kraftakt nicht mehr nötig. Die Passage wurde gestrichen.

Mut, Freiheitsdurst und Eigensinn prägen das Charakterbild nicht nur Pippis, sondern vieler weiterer Kinderfiguren aus Lindgrens Erzählwelt. Sie sind durch die Erfahrungen geprägt, welche die Diaristin in dieser bedrängten Lebensepoche erst zur Schriftstellerin machte. Aus einer neuen, akribisch zusammengetragenen Lindgren-Biografie des Dänen Jens Andersen erfährt man auch viel über die prägende Erfahrung einer frühen Schwangerschaft, die aus einer Liebesbeziehung der 18-jährigen Volontärin Astrid Ericsson zu dem 30-jährigen Chefredakteur der Lokalzeitung in ihrem smaländischen Heimatort Vimmerby herrührte. Die junge Frau entschied sich, den Mann zu verlassen und das Kind allein in Dänemark zur Welt zu bringen. Erst die Heirat mit Sture Lindgren, dem Chef des königlichen Automobilklubs, machte es ihr möglich, ihren Sohn Lars aus der Obhut einer Pflegefamilie heimzuholen. Andersens Biografie zeichnet das Psychogramm einer schuldbelasteten Mutter, die in ihrem Werk das Schicksal vieler einsamer, elternloser Kinder gestaltete. Sie alle werden als Helden im Kampf gegen Machtlosigkeit und Unterdrückung geschildert.

Privilegiertes Inseldasein

Astrid Lindgren war sich stets bewusst, wie privilegiert ihr Inseldasein im neutralen Schweden, diesem „so friedlichen Winkel der Welt“, war. Zu Weihnachten 1943 notiert sie: „Angesichts einer Welt, die so voller Elend und Unglück ist, bekommt alles viel schärfere Konturen. Es ist so geballt elendig, dass ich, als ich gestern einen Kinderchor aus Deutschland mit klaren Stimmen ,Stille Nacht, heilige Nacht‘ singen hörte, in die Küche gehen und weinen musste. Diese Kinder mit ihren engelsgleichen Stimmen wachsen in einem Land auf, in dem sich alles um Gewalt gegen andere Menschen dreht.“ Umso heftiger pocht in ihr das Gefühl politischer Verantwortung, zumindest umfassend informiert zu sein. Im nächsten Satz schon berichtet sie über die Vernichtung des tschechischen Dorfes Lidice als Vergeltung für den Mord an Heydrich: „Und diese Tat ist von einem Volk begangen worden, das ,Stille Nacht‘ geschaffen hat.“

Am 7. Mai 1945 schließlich notiert sie euphorisch: „Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus! Ach, ach, jetzt ist Schluss mit Folter und Konzentrationslagern, Bombenangriffen und ,Ausradierung‘ von Städten, und die gepeinigte Menschheit kommt vielleicht ein wenig zur Ruhe.“

Das letzte Mal meldet sich Astrid Lindgren zu Silvester 1945 im Tagebuch zu Wort. „Zwei denkwürdige Ereignisse hat das Jahr 1945 gebracht. Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg und die Atombombe. Ich möchte wissen, was die Zukunft über die Atombombe sagen wird, ob sie eine ganz neue Epoche im Dasein der Menschen markiert oder nicht. Der Frieden bietet keine große Geborgenheit, die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn.“

Eines zumindest weiß die Tagebuchautorin nun gewiss: „Am glücklichsten bin ich, wenn ich schreibe.“ Und das tat sie fortan ausgiebig, auf dass viele Kinder damit gleichfalls glücklich wurden. ■

Jens Andersen

Astrid Lindgren. Ihr Leben

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. 448 S., geb., € 27,80 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)

Astrid Lindgren

„Die Welt hat den Verstand verloren“

Tagebücher 1939–45. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs. 576 S., geb., € 24,70 (Ullstein Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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